Ein kleiner Planet
Bereits das Auspacken der Buchsendung war ein Vergnügen. Er hatte ihren Inhalt noch zusätzlich in einen Bogen aus dünnem Papier eingeschlagen. Mit dieser Sorgfalt hatte ich nicht gerechnet, aber sie überraschte mich auch nicht. Nach allem, was ich von ihm wusste, schien sie zum Absender zu passen. Und sie war dem Gegenstand angemessen.
Einige Tage zuvor hatte er mir eine Mail geschrieben und gefragt, ob er mir seinen ersten Katalog schicken dürfe. In seiner Mail hatte er ihn zwar auch verlinkt, er legte ihn als pdf vor, aber es stand fest, dass ich die Papierform bekommen sollte. Nicht nur wegen der Vorzüge des haptischen Entdeckens, sondern gewiss auch aus Stolz, denn es steckte die Arbeit eines ganzen Jahres darin. Der Katalog bestand aus zwei Teilen, einer schmalen Broschüre und einem Ringbuch voller Illustrationen. Der Titel klang rätselhaft. Zweifellos war er ein Zitat, das das ich eigentlich kennen sollte: "Mosquito Bytes Cause Malaria".
Heute, am zehnten Todestag von Chris. Marker - der wahrscheinlich auch sein 100. Geburtstag ist, aber so genau hat er die Welt ja nie in sein Leben eingeweiht -, habe ich die Büchersendung wieder hervorgeholt, um verzückt darin zu blättern. Vom dünnen Einpackpapier mochte ich mich noch nicht trennen; es gehört dazu. Sie merken schon: Heute geht es um Liebhaberei. Die schmale Kostbarkeit besitze ich bereits seit dem letzten Winter. Die besagte Email stammte von Sören Schuhmacher, der sich als Buchhändler aus Wiesbaden vorstellte. Im Netz entdeckte ich, dass er eigentlich Fotograf ist und aus Berlin stammt. Meine Neugier war längst geweckt, aber nun war sie umso größer. Ein Orts- und ein Berufswechsel, das vertrug sich gut mit Marker, der schreibend, fotografierend und filmend zeitlebens ein Reisender war, der Bilder erbeutete. Das Logo seines Onlinegeschäfts Chunking Books besiegelte diese Verwandtschaft: ein gezeichnetes Porträt des großen Unsichtbaren, der sein Antlitz in den letzten Lebensjahrzehnten vor der Welt verbarg.
Vielleicht muss man es gar keinen Berufswechsel nennen, wenn aus einem bemerkenswerten Fotografen ein bemerkenswerter Buchhändler wird. Womöglichpr sind es nur zwei Disziplinen einer Annäherung an das Geheimnis der Bilder und Bücher. "I work with Imagery and I am interested in Nostalgia" schreibt er auf seiner Website, wo Sie entdecken können, wie gut Beides zusammengeht. Es liegt nahe, dass seine Begeisterung für Marker ihren Anfang bei »La Jetée – Am Rande des Rollfelds« nahm, bei dem Marker das Genre des Fotofilms erfand. „Da ich mich selbst für die Beziehung zwischen Bild und Text und das Buch als Medium interessiere“, antwortete er mir auf meine erstaunte Nachfrage in der nächsten Email, "hat mich das Werk von Chris Marker schon lange begleitet." Sein neues Metier erlaubt es Sören Schuhmacher, dieser Doppelleidenschaft nachzugehen. Der erste Katalog soll die Komplexität und Medienvielfalt von Markers Werk einigermaßen repräsentativ widerspiegeln. "Vaste programme", um de Gaulle zu zitieren. Mit Marker kann man die Welt in alle Himmelsrichtungen vermessen, und der Katalog gibt eine wunderbare Handhabe dazu.
Er ist das Resultat einer hingebungsvollen Sammel- und Gestaltungstätigkeit. In ihm dürfte jede Facette von Markers polyglotter publizistischer Arbeit enthalten sein, Gedichte, Essays, Zeitschriftenartikel, Bücher, Filmprotokolle, Briefe, die legendären Reiseführer der Reihe "Petite Planète" (die englischsprachige Gesamtausgabe von Vintage Books) und vieles mehr. Schuhmacher hat Pressehefte, Zeitschriften und Sondernummern in mehreren Sprachen ausfindig gemacht. Ich merke gerade, wie sehr ich das längst erloschene, verdienstvoll frankophile "Cicim" aus München vermisse. Schuhmacher ruft durchaus stolze Preise auf für diese Preziosen. Der günstigste Artikel ist die 30minütige Soundcollage des Berliner Künstlers Jo-Moritz Krah, die von »Le joli mai« inspiriert wurde. Chunking Books hat sie im letzten Jahr produziert.
Mit liebevoller Akribie kommentiert Schuhmacher den Zustand der Bücher. "Tiny tape leftovers on page 66", liest man da beispielsweise, "not affecting the text." Das vergaß ich zu erwähnen: Der Katalog ist englischsprachig. Ich weiß nicht, wie zahlreich die Anhängerschaft dieses Filmemachers tatsächlich ist, aber auf jeden Fall ist sie international. Die Sammlung zieht Kreise über Marker hinaus, zu zwei weiteren Solitären im französischen Kino, die ihm in Komplizenschaft verbunden waren: Alain Resnais und Agnès Varda (von ihr unter anderem ein unverfilmtes, amerikanisches Drehbuch entdeckt hat, das der teuerste Artikel in der Sammlung ist). Faszinierend, welchen Spuren seine Sammelleidenschaft folgt, bis hin zu einem Roman des Mexikaners Adolfo Bioy Casares, der eventuelle eine Inspirationsquelle für »Letztes Jahr in Marienbad« war. Der Chilene Patricio Guzman taucht auf den Seiten ebenso wie die Fotografin Sophie Calle auf; beide aus gutem Grund. Schuhmachers setzt seiner Lust an Recherche und Vernetzung wirklich keine Grenzen: ein kundiges, gründliches Kabinettstück der Assoziation. Fürwahr, ein großartiges Geschenk für den Hundertjährigen - und alle, die er in seinen Bann geschlagen hat.
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