Handlungsspielraum

Wie nennt man das Gegenteil einer Sternstunde? Es kommt in der Realität ja viel häufiger vor. Ein griffiges Hauptwort dafür existiert jedoch nicht, ohne Adjektiv geht es nicht. Hier bieten sich dunkel oder finster an, am besten im Superlativ.

Als der Bundestag am vergangenen Donnerstag nach der Videoansprache Wolodymyr Selenskyis zügig zur Tagesordnung überging, fand Nobert Röttgen einen anderen, zornigen Superlativ: Dies sei der würdeloseste Moment, den er je in diesem Hause erlebt habe. Der Abgeordnete gehört dem Parlament immerhin schon seit 25 Jahren an und wählt seine Worte üblicherweise besonnen aus. Röttgen schämte sich als Parlamentarier und als Spezialist für Außenpolitik. War das Haus zu keiner stärkeren Reaktion auf die Rede des ukrainischen Präsidenten fähig als jener kurzen, pflichtschuldigen Demonstration allgemeinen Berührtseins? Duldete die Gratulation zum runden Geburtstag zweier Abgeordneter wirklich keinen Aufschub?

Viele Kinobetreiber mögen in diesen Tagen nicht so einfach zum Tagesprogramm übergehen. Die Cineplex-Gruppe bietet von heute an kostenlose Mittagsvorstellungen für Geflüchtete an (auf jeden Fall in Berlin, aber bestimmt auch anderswo), in denen Familienfilme wie „Shaun das Schaf“ laufen. Andere Kinos organisieren flugs Benefizvorstellung. Am morgigen Dienstag etwa zeigt die „Passage“ in Neukölln den diesjährigen Panorama-Beitrag „Klondike“ von Maryna Er Gorbach. Sogar das Fußballfilmfestival 11mm reagiert mit einem Schwerpunkt „Heimat und Ukraine“ auf die aktuelle politische Lage.

Natürlich ändern auch die Fernsehsender behände ihr Programm. Ich denke dabei nicht nur an die Themenabende auf arte, in denen eine echte inhaltliche Vertiefung stattfindet. Sie überlegen auch genauer, welche Spielfilme sie momentan zeigen. Vor zwei Wochen nahm RTL Nitro plötzlich „Liebesgrüße aus Moskau“ aus dem Programm. Die Entscheidung fiel offenbar so schnell, dass nur der Chef vom Dienst eingeweiht war. Am Ende der davor laufenden Sitcom wurde Sean Connerys zweiter Einsatz als Bond noch angekündigt. Statt dessen lief „Im Geheimdienst ihrer Majestät“; die weiteren Connery-Filme laufen in unveränderter Reihenfolge, sie verhandeln weitgehend blockfreie Konflikte. Auf Vox flogen kurzfristig „R.E.D. 2“ und „Spy Game“ aus dem Programm. Die Privatsender entdecken unversehens die Pietät. Ob Tele 5, wo sonst russische Actionreißer rauf und runter laufen, dem Trend folgen, habe ich bisher nicht überprüft. Das ZDF tauschte derweil am letzten Montag rasch „Mission-Impossible: Das Phantomprotokoll“ aus, wo Tom Cruise und Konsorten eingangs dem Kreml in die Luft sprengen.

In die Suche nach Ersatz fließt indes bisher wenig Kreativität ein. Man könnte konstruktive Alternativen finden. „Im Geheimdienst ihrer Majestät“ war eine symbolkräftige Wahl, denn dort heiratet Bond ja die Tochter eines korsischen Mafioso, womit dezent auf Putins enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen angespielt wurde, die er spätestens in seiner Zeit als Stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg knüpfte und die den Grundstein zu seinem enormen Vermögen setzten. Vielleicht liefern ja  auch Filme über Wahn ("Gabriel over the White House") und Paranoia ("Nixon") in Präidentenamt einen Schlüssel zum Mann im Kreml. Das Thema Gehirnwäsche würde auch passen, aber in „The Manchurian Candidate“ (Botschafter der Angst) geht es um einen Attentäter und nicht um ein ganzes Volk - und der deutsche Titel weckt gerade mulmige Assoziationen.

Ich gebe, zu dass darüber hinaus die Suche schwierig ist. Genres, in denen sich die Nachrichtenbilder verdoppeln, kommen nicht in Frage: nicht die rechte Zeit für Trümmer-, Kriegs- und Durchhaltefilme. Ich würde mir Filme über die Luftbrücke wünschen, davon gibt es aber leider nicht viele, die etwas taugen; „The Big Lift“ mit Montgomery Clift allerdings finde ich sehr passabel. Anders verhält es sich bei Filmen über Evakuierungen. Christopher Nolans „Dunkirk“ ist zwar stark, aber ein Streitfall, weil es sich doch um einen Kriegsfilm handelt. Ich empfehle statt dessen die muntere, keineswegs harmlose Komödie „Their Finest“ (Ihre beste Stunde, Regie: Lone Scherfig), die ich im Juni 2017 für epd Film besprach und mit deren historischen Hintergründen ich mich seinerzeit an dieser Stelle beschäftigte.

Die Dekolonialisierung wäre eine interessante Spur. Auf Anhieb fällt mir ein Lieblingsfilm von Martin Scorsese ein, „Guns at Batasi“ (Schüsse in Batasi, Regie: John Guillermin) von 1964. Mein Freund Heiko und ich haben ihn erst vor ein paar Wochen erst voller Erstaunen entdeckt. Er spielt in einer britischen Garnison in einem fiktiven afrikanischen Land, das unlängst unabhängig wurde. Während eines überraschenden Staatsstreichs versuchen die Mitglieder einer britischen Garnison, die richtige Haltung und Strategie zu den Ereignissen zu finden. Ein säbelrasselnder Berufsoffizier (Richard Attenborough) steht einer liberalen Abgeordneten (Flora Robson) gegenüber, die Appeasement predigt, aber von den Geschehnissen überrollt zu werden droht. Immerhin findet in der belagerten Garnison ein Unterricht in Staatslehre statt. Als Lehrstück über Deeskalation taugt Guillermins Film nicht schlecht. Bei diesem Stichwort fällt mir selbstredend „Thirteen Days“ über die Kubakrise ein. Der erzählt am Ende jedoch weniger vom Sieg der Diplomatie als vielmehr der Drohgebärden.

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