Interview: Catherine Breillat
Catherine Breillat. Foto: Filmmuseum Wien/Mercan Suembueltepe
Die Regisseurin Catherine Breillat sprach mit Gary Vanisian über ihre Filme, ihre Romane – und die Frage, warum Skandale anders bewertet werden, wenn Männer sie verursachen
Das Österreichische Filmmuseum widmete der französischen Filmemacherin und Schriftstellerin Catherine Breillat im Januar und Februar 2020 eine vollständige Retrospektive, die erste im deutschsprachigen Raum.
Sieben Jahre sind seit dem Erscheinen von Breillats letztem Film, »Missbrauch«, vergangen. Sie hat zwischen 1976 und 2013 14 Langfilme realisiert sowie einen Beitrag zum Omnibusfilm »À propos de Nice – Wie es weiterging« (1995). Davon sind fünf Filme in deutschen Heimvideo-Editionen veröffentlicht worden. Als Drehbuchautorin war sie insbesondere in den 1980er Jahren an vielen Produktionen beteiligt. Von ihren zahlreichen Romanen wurden drei ins Deutsche übersetzt: »Ein leichter Mann« (1969), »Ein Mädchen« (2001) und »Pornokratie« (2003). Die bisher umfangreichste filmwissenschaftliche Arbeit über Breillats Filmwerk stammt von Dörte Richter und erschien 2005 unter dem Titel »Pornographie oder Pornokratie? Frauenbilder in den Filmen von Catherine Breillat«. Zuletzt war Breillat 2019 Jurypräsidentin beim Filmfestival in Locarno.
Im Österreichischen Filmmuseum stellte sie am 17. und 18. Januar zwei ihrer Filme vor: »Meine Schwester« (2001) und »Ein Mädchen«.
epd Film: Frau Breillat, Ihr Werk wird hier im Österreichischen Filmmuseum in Korrespondenz mit dem Werk des italienischen Regisseurs Marco Ferreri gezeigt. Ist er ein Filmemacher, dessen Filme Ihnen wichtig waren oder sind, und dessen Schaffen Sie seinerzeit verfolgt haben?
Catherine Breillat: Natürlich. Zunächst einmal war ich eng befreundet mit Jean-Pierre Rassam, der »Das große Fressen« (1973) produziert hat. Und dann natürlich, weil Ferreri Skandale erzeugte. Aber er erzeugte Skandale, wie ein Mann es tut. Sehen Sie, die Skandale von Männern funktionieren so: Sie machen etwas Opulentes, und man feiert sie für ihre Skandale. Hätte ich den gleichen Film gemacht, wäre ich getötet worden, weil ich eine Frau bin und dies von schlechtem Geschmack gewesen wäre. Der schlechte Geschmack eines Mannes ist viel zulässiger als der einer Frau. Daher beneide ich ihn in gewissem Sinne, aber andererseits ist er viel explosiver als ich, würde ich sagen. Seine Filme sind ganz anders als meine. Die einzige Verwandtschaft zwischen uns ist wahrscheinlich die, dass wir beide unsere Epoche erschüttert haben. Das ist sehr wichtig und immerhin eine große Verwandtschaft.
Beschreiben Sie uns bitte Ihren Werdegang als Künstlerin, den Beginn Ihres Schreibens und Filmemachens.
Es ist ein Leidensweg, aber so musste es wohl sein. Ich habe mit 12 Jahren beschlossen, wer ich einmal sein würde. Als ich »Die Nacht der Gaukler« (1953) von Ingmar Bergman gesehen habe, beschloss ich, dass ich Filmemacherin sein würde. Dieser Entschluss wurde noch verstärkt durch »Viridiana« (1961) und »Die Vergessenen« (1950) von Luis Buñuel. Das waren meine ersten Filme, ich war nie vorher im Kino gewesen, und dann sah ich Bergman… Ich, die ich mich so einzigartig fühlte, auf einmal sah ich meinen fiktiven Körper – so nenne ich es immer -, und das war Harriet Andersson. Das bin ich. Und dann – der Schriftsteller Lautréamont. Sein »Maldoror« bin ebenfalls ich. Das weckte in mir die Idee, dass ich Kino machen müsse, um die Welt zu erfinden, die schon in mir lebte. Denn sonst war die Welt mir feindlich gesonnen. Es war nicht meine Welt. Ich musste meine eigene Welt materialisieren, erschaffen. Um überleben zu können, musste ich das tun. Und ich musste auch schreiben. Ich dachte an die Musik der Wörter bei Lautréamont, den ich für den größten französischen Schriftsteller halte.
Es ist seltsam. Seltsam, dass er der größte französische Schriftsteller sei. Aber für mich hat das mit der Musikalität der Sprache zu tun, und dann auch, weil ich die Brutalität liebe, das ist gewiss. Bei vielen großen Schriftstellern, und nicht nur französischen, findet man viel Brutalität. Nicht zuletzt Brutalität gegen Frauen, aber in einer wunderbaren Sprache, in wunderbaren Gedanken, das stört mich überhaupt nicht.
Ich bin Feministin, aber Kunst ist Kunst. Sie vergibt alles. Ich habe Dinge gemacht, die von Feministinnen sehr gescholten wurden. Ihnen zufolge durfte man Frauen nicht ausziehen. Aber warum sollte ich nicht das Recht dazu haben? Der Louvre ist voller nackter Frauen. Sie sagten, man dürfe bestimmte Dinge nicht filmen, insbesondere den Masochismus. Man habe kein Recht dazu. Als Frau. Und ob! Man hat das Recht! Es interessiert mich sehr, eine Vergewaltigung zu filmen. Und ich liebe es, junge Mädchen zu filmen. All das.
Ich bin der Ansicht, dass die Kunst eine Moral ist. Eine Moral, weil sie unerbittlich ausgeübt werden muss. Sie hat eine extreme Bedeutung, sie manipuliert die Seelen und die Gehirne. Aber sie darf nicht moralistisch sein, das ist etwas Anderes. Sie darf nicht dem Akademismus verfallen. Man darf nicht um jeden Preis gefallen wollen. Ich hätte Lust, einen Artikel über die Bedeutung des Gehasstwerdens zu schreiben. Nun, das hat auch damit zu tun, dass ich es eines Tages geschafft habe, in Frankreich fast geliebt zu werden. Und dann drehe ich »Anatomie de l'enfer« (Romance 2 – Anatomie einer Frau, 2003). Ich muss dazusagen, dass es ein schrecklicher Film ist, der nicht dafür gemacht ist, um geliebt zu werden. Ich war in Berlin, wohin der Film eingeladen wurde, und wo man mich unwahrscheinlich gut behandelte. Kaum war ich dort angekommen, sah ich eine gerade erschienene Zeitung. Auf einer Seite war ein großes schwarz eingerahmtes Feld, riesig, eine ganze Zeitungsseite, wie eine eingerahmte Traueranzeige, und darin stand: »Schluss machen mit Catherine Breillat«. Das hat mich schockiert.
War es eine französische oder deutsche Zeitung?
Eine französische! Nein, nein. Wer hasst mich? Die Franzosen! Wen hasse ich? Die Franzosen! Natürlich. Der Hass ist auch gegenseitig. Davon abgesehen liebe ich meine Sprache, ich liebe das Französisch, aber ich hasse die Franzosen. Ich hasse die Französische Revolution, derer sie sich so brüsten. Natürlich ist die Sprache großartig und einige Autoren, natürlich gibt es Ausnahmen. Aber nicht sehr viele lebende. Tote gibt es einige.
Das Problem an der Kunst, das Wunderbare an der Kunst ist nämlich, dass man sich selbst die Verwandtschaft wählen kann, die man haben möchte. Und ich bin die Tochter Ingmar Bergmans und Lautréamonts. Nicht die Tochter meines Vaters und meiner Mutter, nein, sondern die Tochter Bergmans und Lautréamonts!
Gab es auch Schriftstellerinnen oder Filmemacherinnen, die Sie beeinflusst haben?
Es gab damals keine! Die einzige Filmemacherin, die wirklich existiert hat, war Barbara Loden, die »Wanda« (1970) gedreht hat. Sie hat damit einen gewaltigen Film geschaffen! Es ist ein Meisterwerk. Das beweist zumindest eine Sache: Frauen können Meisterwerke erschaffen. Ich muss natürlich auch »Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7« (1961) erwähnen, ein sehr, sehr schöner Film. Aber ich erinnere mich: Als ich Filme machen wollte, seit ich 12 war, dachte ich: Wie kann man Filme machen, wenn man in der Provinz wohnt? Mein Vater hatte sich mit dem Leiter einer großen französischen Filmschule getroffen, und der hatte ihm gesagt: »Ach, nein! Agnès Varda ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt, und eine Frau kann keine Filmemacherin sein. Ich würde aus ihrer Tochter eine Arbeitslose machen. Sie kann sich als Scriptgirl oder Cutterin bewerben«. Ich und anderen dienen? Nein! (lacht) Nein, ich muss mir selbst meine eigene Welt erschaffen. Also beschloss ich, sie mir zu erschaffen. Und dies war die einzige Art, es zu tun – ich sagte mir: Wenn ich ein Buch schreibe und veröffentliche, wird man mich bitten, es zu verfilmen. Das hat einige Zeit gedauert, aber lustigerweise ist es so geschehen. Dann hat der Film 25 Jahre bis zu seiner Veröffentlichung gebraucht.
Dies war »Ein Mädchen« (1976/1999). Hatten Sie aber auch daran gedacht, Ihren ersten Roman, »L'homme facile« (Der leichte Mann) zu verfilmen?
Ich glaube, dass es dumm war, ihn nicht zu verfilmen. Ich hätte ihn verfilmen müssen. Nicht zuletzt, weil der Titel großartig ist. Ich war Jungfrau, als ich das Buch geschrieben habe, eben wirklich ein echtes junges Mädchen.
Ich habe das Manuskript in einem Strumpf versteckt aufbewahrt. Ich wollte es niemandem zeigen. Schließlich entschied ich mich doch, es hervorzuholen, da es mir gefiel, und ich machte ein Treffen mit dem Verleger Christian Bourgois aus. Ich kam zum Treffen, überreichte ihm das Manuskript und rannte davon. Ich brachte ihm ein wirkliches Buch: Ich hatte es auf der Schreibmaschine abgetippt, es gebunden, einen Buchumschlag gebastelt – so was hatte er noch nie gesehen. Ich aber rannte davon. Als ich wieder zu Hause war, rief er mich an und sagte, er wolle es veröffentlichen. Aber dafür hat er letztlich ein Jahr gebraucht. Weil er Angst hatte. Weil es ein Buch war, das unweigerlich unter die Vorschriften für ein Verbot fallen musste.
Ich glaube, es ist das Buch einer verrückten Jungfrau. Aber einer, die sehr viel an großer Literatur von Männern gelesen hat. Den Marquis de Sade mag ich nicht. Ich liebe Gewalt, die sehr viel barocker ist, viel explosiver. De Sade ist zu klein, ich mag das nicht. Ja, ich liebe große Gewalt. Ich liebe Audiberti, ich liebe Lautréamont, ich liebe natürlich Henry Miller. Ich weiß, dass auch er gegen Frauen schrieb, das ist verblüffend. Baudelaire schrieb gegen die Frauen, und er ist ein gewaltiger Autor. Ich bin Feministin, aber das ist eine politische Frage! Es handelt sich um eine Position: Ich will Rechte! Was ich auch immer gewollt habe. Ich will das Recht haben, Dinge zu sagen, das Recht, eine Direktorin zu sein, das Recht, eine Ärztin zu sein. So ist das. Ich will und muss etwas erschaffen. Aber ich habe keine Lust, Politik zu machen, ich habe mich für die Kunst entschieden und in der Kunst bin ich politisch gesehen inkorrekt. Und natürlich verlange ich, dies sein zu dürfen, das ist ein Recht.
Wie alt waren Sie, als Sie das Buch geschrieben haben?
Als es veröffentlicht wurde, war ich schon 18, glaube ich. Aber als ich es schrieb, war ich 17, und da es erst ab 18 Jahren freigegeben war, ist das eine unglaubliche Geschichte. Ich habe keinen Skandal erzeugt, sondern ich bin der Skandal. Denn das Verbot betraf mich selbst, ich hätte nicht das Recht gehabt zu lesen, was ich geschrieben hatte. Das heißt, dass die Gesellschaft die Meinung vertritt, dass ich nicht existieren darf. Warum hat Herr Toscan du Plantier (langjähriger Leiter von Unifrance, A.d.Ü.), den alle so verehren, der den Atlantik in einer Concorde auf Kosten der Gesellschaft überquert hat, der er als Präsident vorstand, der den Auftrag hatte, den Export französischer Filme ins Ausland zu fördern, warum hat also dieser Mann der New York Times ein Interview gegeben und darin erklärt, dass das Festival in New York einen riesigen Fehler gemacht habe, indem es »Lolita '90« (1988) ausgewählt habe, und dass ich keineswegs repräsentativ für das französische Kino sei? Die Franzosen hassten mich. Mein »Lolita '90« war jedenfalls in der Jahresliste der Zeitschrift »Télérama« in jenem Jahr so vertreten: »Dieser Film ist der schlechteste in der Geschichte des französischen Kinos!« Wie wollen Sie, dass ich dieses Frankreich liebe?! Ich kann es nicht lieben.
In der Tat, es ist absurd, dass Ihr Film solche Reaktionen hervorgerufen hat.
Sehen Sie. Und es ist auch sehr, sehr interessant. Aber es ist jedenfalls mit der Tatsache verknüpft, dass man »L'homme facile« für unter 18-Jährige verboten hat. Obwohl ich das Buch geschrieben habe, als ich jünger als 18 war. Und dann auch ob der Tatsache, dass ich eine Frau bin. So ist es: Wenn ein Mann über sexuelle Dinge spricht, wird er sehr oft anerkannt. Ein solcher Skandal steigert sein Ansehen. Wie im Fall von Marco Ferreri. Wenn aber ein Mädchen oder eine Frau wie ich es wagt, ähnliche Dinge zu schreiben, ist es undenkbar!
Glauben Sie, dass es Ende der 1960er Jahre einen Wechsel in der Gesellschaft und den von ihr auferlegten Restriktionen gab? Denn schließlich konnte Ihr Roman ja doch überhaupt veröffentlicht werden…
Ja, ich habe diesen Wechsel bewirkt! Daher sollte man nicht übertreiben: Die Gesellschaft hat sich nicht verändert, ich war es, die sie letztlich verändert hat! Durch »Romance« (1999)! Bis zu diesem Tag hatte ich nie gute Besprechungen gehabt, aber plötzlich hatten die französischen Kritiker Angst. Immerhin hatte ich ausgesprochen gute Besprechungen für diesen Film in den USA gehabt und auch der britische »Guardian« war ganz und gar auf meiner Seite. Dort gab es, mitten während des Kosovo-Krieges, eine ganze Seite zu diesem Film, auf der es hieß: »Das wichtigste gegenwärtige Ereignis ist die Veröffentlichung von »Romance« – nicht in England, sondern in Frankreich! « Denn auch wenn man den Film nicht mag, muss man zugestehen, dass es ein Vor und ein Nach »Romance«.
Ich weiß, wie man die Zensoren traumatisiert. Einmal habe ich die Kritiker gezwungen, als ich wieder schlechte Rezensionen erhielt, mir die Kritik zu erklären. »Sagt mir, warum! Erklärt es mir! Und ich werde euch widerlegen, euch zeigen, dass ihr falsch liegt!« Irgendwann konnte ich sie die Seite wechseln lassen wie einen Crêpe! Es reichte, dass ich ihnen erklärte, was meine Filme sagen wollten. Daher habe ich, ab »Eine perfekte Liebe« (1996), begonnen, ein detailliertes Pressedossier zu erstellen und darin sehr genau zu erklären, was der Film sei. Für die, die es nicht sahen. Das war jedenfalls meine Erfahrung, zwischen »Nächtliche Ruhestörung« (1979) und »Lolita '90«, dass sie nichts sahen. Sie waren dumm wie ihre Füße. All das, was um meine Filme herum geschah, hinderte sie daran zu sehen, was die Filme eigentlich waren. Ich würde aber nicht das Gleiche im Hinblick auf »L'homme facile« sagen, denn ich bin viel zurückhaltender, was das Schreiben anbetrifft. (lacht) Immerhin. Aber wenn es um meine Filme geht – nein! Ich bin Filmemacherin, davon bin ich überzeugt.
Kurz bevor ich ein »Ein Mädchen« drehte, begegnete ich Roberto Rossellini. Er lud mich zum Mittagessen bei sich ein und ich muss ihm sehr unverschämt vorgekommen sein, wie ich mich für eine große Filmemacherin hielt und sagte: »Ich werde meinen Film drehen«. Und er muss sehr überrascht gewesen sein, dass ich ihn als Ebenbürtigen ansah, obwohl ich noch keinen Film gedreht hatte. Er war sicher etwas bösartig und auch etwas gereizt, als er mich dann fragte, was ich denn Neues ins Kino zu bringen gedachte hinsichtlich des Blicks auf junge Frauen. Und ich antwortete ihm: »Den Blick der Scham. Also etwas, was kein Mann sagen kann, weil ihr es seid, die uns die Scham gebt, die wir tragen müssen. Das also, was noch nie gesagt worden ist, ist es, was niemand sonst als ich sagen kann«.
Mich interessiert auch sehr zu hören, wie Sie als Drehbuchautorin mit FilmemacherInnen wie Liliana Cavani oder Marco Bellocchio zusammengearbeitet haben.
Ich werde Ihnen etwas sagen: Das waren in gewissem Sinne Schwindeleien für Ko-Produktionen, dass ich als Ko-Drehbuchautorin aufgeführt wurde. Es gibt ein Drehbuch, das ich zu 95 Prozent geschrieben habe, und das ist »Der Bulle von Paris«, den Maurice Pialat schließlich drehte. Fellini dagegen brauchte mich, um französisches Ko-Produktionsgeld zu erhalten. Wobei ich natürlich auch Drehbücher geschrieben habe, denn ich musste Geld verdienen. Ich hatte solch einen Drang, Filme zu machen, und von meinen Büchern konnte ich nicht leben, daher habe ich Drehbücher geschrieben, was ich in gewissem Sinne auch bezeichne als: Dem Teufel seine Seele verkaufen, denn dadurch verliert man trotzdem die Schönheit des Schreibens. Was soll ich Ihnen sagen – es ist so schade, dass nicht ich es war, die diese Drehbücher realisiert hat.
Schauen Sie sich »Bilitis« (1977) an – welche Verzweiflung das in mir weckt! Ich hätte ihn ganz und gar nicht so gemacht! Das Licht ist zwar wunderbar, denn David Hamilton ist ein Fotograf. Aber er hatte letztlich nicht den Mut, dessen es bedurft hätte. Ich hatte eine Produktionsfirma für diesen Film gefunden, und der Produzent hatte sogar eingewilligt, dass wir ein Mädchen im Alter von 12 Jahren als Hauptdarstellerin besetzen. Hamilton hat aber Patty D'Arbanville mit Zöpfen gewählt. Nun ist Bilitis ein Mädchen, ein unechtes Kind, mit Zöpfen, das ist aber nicht die wirkliche, 12jährige Bilitis. Und das ist nicht das Gleiche, ganz und gar nicht. So ist nun alles daran grotesk. Man kann nicht imitieren, was eine 12-Jährige auszeichnet: ihre ganzen Gefühle, diese Mehrdeutigkeit und gleichzeitig diese Offenherzigkeit, dieses sexuelle Erwachen – das schon mit 12 entstehen kann, ob man es bestreitet oder nicht. Mit 12 Jahren hatte ich einen Brustumfang von 90 Zentimetern; ich hatte meine Tage, war aber keine Frau. Ich besaß eine wahrhaftige Unschuld. Aber ich hatte zugleich eine wahrhaftige Weiblichkeit. Natürlich gab es Männer, die mir damals gefielen. Und auch ich gefiel ihnen. Grundsätzlich ist es ein Tabu, daher schauen sie ein junges Mädchen nicht an, ich empfand das als demütigend! Aber wenn sie es anschauen würden, würden sie ins Gefängnis kommen! (lacht) Von einem Moment auf den anderen. Wahrscheinlich ist das der Revisionismus aller Sitten. Es gibt ein Vor und ein Zurück. Aber es stimmt, dass man bestimmte Sachen kontrollieren muss. Ich bin nicht gegen die Zensur und das von ihr ausgehende Verbot für Kinder, bestimmte Filme zu sehen. Aber Erwachsenen Filme zu verbieten, das ist etwas anderes. Man hat das Recht auf Dinge für Erwachsene. Das ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht. Man darf nicht in der Welt von Walt Disney leben, das wäre ein Alptraum, und was für einer!
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten, entscheidendsten Einflüsse auf die Sexualität eines Menschen? Die Kunst, das Verhältnis zur Natur, die Erziehung?
Vielleicht ist es die Kunst, trotz allem. Es gibt so viele Einflüsse: den Zustand des Verliebtseins, die Leidenschaft. Man verliebt sich, ist beglückt, der Rausch der Liebe, das stimmt ein bisschen. Aber es ist beides zugleich: Es ist sowohl ein überwältigendes Gefühl wie auch zugleich ein entfremdendes.
Einflüsse sind die Erziehung, manchmal auch Bücher, denn Bücher lesen, das bedeutet, in das Reich des Verbotenen zu reisen, überall hinzugehen, sich fortzubewegen, Dinge leben, die man nicht gelebt hat.
Das ist das, was mich an der Sprache fasziniert: die 26 Buchstaben des Alphabets! Kennt man sie, dann besitzt man die ganze Welt! 26 Buchstaben. Das ist beeindruckend. Das ist die Überlegenheit der Literatur gegenüber dem Kino. Was aber wiederum das Kino überlegen macht gegenüber der alphabetischen Literatur, das sind die Videogramme. Das heißt: Im gleichen Augenblick, in derselben Hand kann man eine Emotion und ihr Gegenteil haben. Absolut im gleichen Augenblick. Und hier betritt man die wirkliche Philosophie, das wirkliche menschliche Verständnis, das wirkliche Verständnis der Emotionen, ihrer Gewalt, ihrer Mehrdeutigkeit. Wie das Schreckliche auch Schönes beinhalten kann, oder wie das Leiden zugleich ein Vergnügen sein kann, all das zur gleichen Zeit, das kann man mit dem Kino manipulieren. Diese Augenblicklichkeit der Gegensätze. Daher ist es doch eine große Kunst, und letztlich auch eine einmalige.
Sprechen wir vom Dreh eines Films. Denn es ist eine Sache, einen Film zu schreiben und zu konzipieren und eine ganz andere, ihn zu drehen. Um ein Beispiel zu geben: Stellt sich der Dreh eines Films eher so dar wie es Fassbinder in »Warnung vor einer heiligen Nutte« zeigt oder wie Truffaut es in »Die amerikanische Nacht« inszeniert?
Ich mag Truffaut nicht, aber ich liebe Fassbinder! Damit ist alles gesagt.
Ist der Dreh eines Films etwas, dem Sie immer entgegensehen oder etwas, das Ihnen Angst, Schrecken bereitet?
Nein, es hat mir nie Angst oder Schrecken bereitet. Das Drehen eines Films ist wie ein heißes Bad. Man sagt mir immer, ich würde meine Schauspieler in ein heißes Bad stecken.
Wissen Sie, was Nagisa Ōshima in seinem Tagebuch für mich darüber geschrieben hat? Es ist wie der Flug des Ikarus! Man muss sich bis an den Rand des Abgrunds begeben. Und springen! Man macht etwas und dann springt man ins Leere. Und man muss fliegen, sonst stürzt man ab. So beginnt man einen Film. Man weiß nicht, welchen Film man machen wird. Und doch ist er da und nimmt unter deinen Augen Form an…
Wenn man Filmemacher sein will, aber nur selten drehen kann, ist es so, als wenn man ohne jegliche Vorbereitung an den Olympischen Spielen teilnehmen wollte. Aber so geschieht es ja, dass man zwei, drei Jahre lang sich einen Film ausdenkt und dann, plötzlich, macht man ihn, man läuft den Marathon und es sind die Olympischen Spiele. Dennoch ist es seltsam, etwas so Professionelles zu machen, mit so viel Genauigkeit, mit dem Willen, das Beste erreichen zu wollen – aber ohne jegliche Vorbereitung. Und Ōshima hat auch gesagt, und das scheint mir sehr, sehr wahr zu sein: Je mehr der Regisseur versucht, sich hinter seinem Film zu verstecken, umso mehr zeigt er sich. Und tatsächlich, was immer auch ein Künstler macht, es ist autobiografisch. Denn selbst wenn es nicht seine eigene Geschichte ist, ist es doch trotzdem er, es ist sein Fleisch, es sind seine Gedanken, seine Emotionen, es ist das, was er liebt, was er – sich dabei versteckend – in den Film übersetzt.
Und der Zuschauer, was macht er? Er sieht sich selbst auf der Leinwand, findet sich in einer Fiktion, was bewirkt, dass er sich selbst betrachten kann. Und so ist meine Definition dessen, warum die Fiktion so wichtig für den Menschen ist: Was wichtig ist, ist das Sich-Kennen, das ist die wichtigste Sache im Leben. Man sollte sein Leben nicht verlebt haben, ohne sich selbst zu kennen. Den kleinsten Winkel seiner Schönheit und auch seiner Düsternis kennen. Jene Dinge, vor denen man sich am meisten schämt. Denn wir sind keine Heiligen. Es gibt Dinge, die wir machen oder die wir denken, die schändlich sind. Man sollte sie kennen, sie klinisch analysieren. Kenne dich selbst, das ist extrem wichtig. Und um sich zu kennen, muss man sich erkennen. Wie kann man sich erkennen? Wie ich. Ich habe mich in »Die Nacht der Gaukler« wiedererkannt. Mein fiktiver Körper war Harriet Andersson. Um sich also zu kennen muss man sich wiedererkennen, mithin ist die Fiktion extrem wichtig für den Menschen. Durch Fiktion, durch Symbole sprechen, das ist menschlich.
Um wieder auf das Drehen zurückzukommen: Ich spreche beim Drehen sehr leise und ich bin ein Dandy, daher war ich nach Ansicht von Leuten wie Toscan du Plantier kein Chef am Filmset. Für ihn sind Chefs solche, die »Aktion!« (A.d.Ü.: in Frankreich beim Filmdreh die übliche Anweisung des Regisseurs an die Schauspieler beim Beginn des Drehs einer Filmszene; das Pendant dazu in Deutschland ist „Und bitte!“) schreien und „Schnitt!“ Ich aber sage am Filmset nichts. Ich wahre so etwas wie das absolute Schweigen und weiß nicht, wie ich Regie führe. Denn ich führe nicht mit Befehlen Regie, nein. Jedenfalls lautet meine Theorie: Wenn man jemandem sagt – »Mach das«, dann befähigt man ihn, es zu tun. Diese Person macht also, was man sie gern machen lassen würde, begibt sich also in das heiße Bad. Es ist letztlich ein Akt des Medium-Seins.
Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich merkte, dass innerhalb von zwei Tagen die Beteiligten in meine Filme eintraten wie man in einen Klosterorden eintritt. Die Kunst ist etwas Heiliges. Man muss also plötzlich in einen Orden eintreten, in dem man ein Kunstwerk erschafft. Eine Art von Geheimniszustand, in dem man von einer Mission durchdrungen ist. Und mir gelingt es, an meinen Filmsets eine solche Stimmung zu erzeugen. Sie sind wie eine Kathedrale. Ich weiß nicht, wie ich es mache.
Was ich immer wieder sage, wenn man mich fragt, wie ein Film entsteht: Es gibt Leute, die sagen, dass die Schauspieler einen Film machen. Aber nein! Natürlich nicht, ein Film ist nicht das Werk der Schauspieler, sondern wird auch von demjenigen geschaffen, der das Licht macht, vom Kameramann, von demjenigen, der die Kamerafahrt aufbaut, und von den Elektrikern, der Maskenbildnerin … Man weiß bei allen, die ich eben genannt habe, was sie am Filmset tun. Ich dagegen, ich tue nichts. Und das sage ich ihnen auch: Ich tue nichts, ich bin der Film. Und das ist die absolute Wahrheit. Tatsächlich tue ich nichts, sondern ich bin. Tun heißt nicht sein. Wozu also »Aktion!« sagen? Damit alle anderen sinnlos rumhampeln? Ich sage nicht »Aktion!« Allein schon deswegen, weil ich dann meine Stimme hören würde, was mich aus der Konzentration bringen würde. Ich bin sehr schüchtern, daher bereitet es mir Unbehagen, meine Stimme zu hören. Und wenn ich Unbehagen empfinde, bin ich nicht mehr im Zustand der Reinheit, die ich brauche, um einen Film zu machen. Man muss entspannt sein, um einen Film zu machen, man muss man selbst sein, sonst wird es nicht zu einem eigenen Film werden. »Aktion!« zu sagen ist mir unbequem, es reizt meine Ohren. Und wenn die Schauspieler dieses Kommando hören – vorher haben wir sie betrachtet, sie waren erhaben, sie lebten, aber auf einen Schlag überprüfen sie sich selbst. Und alles ist verloren! Es entstehen Aufnahmen, die man nie wird gut montieren können. Und nicht nur fangen sie an, sich selbst zu überprüfen, sondern sie beginnen sofort zu spielen. Daher habe ich Lust »Nicht-Aktion!« (A.d.Ü.: Im Original verwendet Breillat das Wort „Inaction!“) zu sagen. Und ich filme diese Nicht-Aktion. . Was gesagt wird, ist „Kamera läuft!“, damit klar wird, dass gedreht wird, und alle anderen technischen Ansagen, aber nichts sonst. Die Schauspieler beginnen also einfach. Manchmal spreche ich mit ihnen und sage ihnen, mitten in der Szene etwas, und ich verbiete ihnen, jetzt aufzuhören. Was ich sage, ist: »Lass dein Auge etwas mehr so aussehen, siehst du? Du senkst es etwas nach da, du drehst den Kopf ein wenig so«. Wie in Gemälden eben, damit die Kadrierung stimmt. Das verändert die Emotionen so sehr. Ich bin extrem präzise. Manchmal erfinde ich auch eine Dialogzeile, dann werfe ich sie in die Luft und die Schauspieler müssen sie in den Film integrieren.
Das heißt, dass Ihre Dreharbeiten durchaus auch von Spontaneität und Flexibilität geprägt sind?
Ja, aber… Während ich drehe, bin ich redselig, nehme an den Schauspielerdialogen teil. Ich bin also sehr dirigistisch. Meine Cutterinnen sagen mir: »Catherine, du redest die ganze Zeit!« (lacht) Inzwischen bin ich immer präziser geworden. Aber offensichtlich spreche ich viel. Und ich bin mir dessen nicht bewusst. Es ist ein Trancezustand. Deshalb bin ich wie ein Medium für die Schauspieler, und vor allem am Set. In einem Moment ist es ein Trancezustand, und im nächsten Moment dreht sich der Film von selbst. Zwei Tage braucht es, um diesen Zustand zu erreichen. Denn in den ersten zwei Tagen sind die meisten Einstellungen etwas paralysiert. Aber plötzlich ergreift dieser Zustand Besitz von einem, von allen am Set. Der Dreh wird zur wichtigsten Sache der Welt, zu einer Welt für sich, und der Rest der Welt existiert nicht mehr. Am Ende dieser zwei Tage wird gedreht. So ist es. Und der Film dreht sich von selbst. Er nimmt seine eigene Identität an. In den ersten Tagen der Sichtung der Dailies entdecke ich, welchen Film ich eigentlich mache. Sehr viel später entdecke ich wieder, dass ich sehr genau geschrieben hatte, was ich machen wollte, mir aber dessen nicht mehr bewusst war. Wenn ich am Drehort ankomme, weiß ich es nicht. Dabei gibt es aber Dinge, die ich akribisch mache.
Als ich »Romance« gesehen habe, war ich am Boden zerstört! Ich sagte mir: »Das ist nicht mein Film, ich lehne ihn ab, das ist nicht mein Film. Ein derart kalter, eisiger Film, während ich dachte, ich würde ein »Im Reich der Sinne« machen?!« Ich dachte, dass ich einen Film wie Ōshima machen würde, aber Ōshimas Film ist warm. Ich bin eiskalt. Ich bin viel eher wie Pasolini, letzten Endes. Mehr Pasolini als Ōshima. Und wie die japanische Küche: roh, aber fein.
Ich bin nicht sehr bescheiden, nein. Aber das kommt, weil ich eine Ambition habe. Letztlich liegt es an Ihnen, das zu beurteilen, aber selbstverständlich kann ich nicht bescheiden sein, weil ich eine künstlerische Ambition habe und gewiss auch eine hohe. Ich weiß dagegen, dass ich keine große Meisterin bin, was mich ärgert, aber eine kleine Meisterin, was immerhin nicht schlecht ist.
Ich weiß um die großen Meisterwerke des Kinos, es gibt sie. Als ich »Romance« gemacht habe, war ich trotzdem sehr akribisch dabei. Alle Einstellungen, das Rot in den Aufnahmen, das erratische Wesen des Films. Das Drehbuch hatte ich schon 20 Jahre vorher geschrieben und man sagte mir, dass es wunderbar sei, aber ein solcher Film nicht gemacht werden könne. Und ich nannte ihn »Romance glacée« (A.d.Ü.: wörtlich Eisige Romanze). Schließlich nannte ich ihn »Romance«, aber ich habe die Bilder vereist. Vielleicht ist er auch wegen der Zensur so geworden. Ich hätte einen sinnlichen Film machen können. Ich wollte aus dem Film aber eine Waffe gegen die Zensur machen. Denn es ist weder ein sinnlicher noch ein erotischer Film. Es ist ein Film über die Suche nach der sexuellen Identität einer Frau, was etwas ganz anderes ist. Wer bin ich, wenn ich eine Frau bin? Und ich wollte einen Diskurs mit der Zensur führen: Kann man ein Werk wie »Der Ursprung der Welt« von Gustave Courbet mit einem Foto verwechseln, das man auf einer Internetpornoseite findet? Was macht den Unterschied? Die Kunst macht den Unterschied. Und die wesentliche Frage, das Hauptproblem ist nicht, was man zeigt, sondern: Warum zeigt man etwas, und wie zeigt man etwas?
So möchte ich Sie zum Abschluss des Gesprächs nach dem status quo der Sexualität in unserer virtuellen und digitalen Zeit fragen. Wie, denken Sie, wird sich unser Verhältnis zu sexuellen Bildern entwickeln?
Es ist schwierig, die Intimität der Menschen zu durchdringen. Es ist schwierig zu wissen, welche Sexualität sie haben. Was aber Pornofilme betrifft, wie sie heute hauptsächlich entstehen, so sind sie für mich keine Fiktion. Ihr einziger Zweck ist die Funktion als audiovisuelles Mittel zur Erregung. Das ist die Formel Rocco Siffredis. Er ist ein Pornostar, und es gibt auf diesem Gebiet Stars, das versteht sich. Aber da sie keine Fiktion erzeugen, gibt es keine Schauspieler und dementsprechend auch keinen Film. Es sind audiovisuelle Erreger und ich habe nichts gegen sie. Die Leute sollen machen und sehen, was sie wollen. Aber wenn man sie, meiner Meinung nach, vor die Wahl stellen würde zwischen dem großartigsten Gangbang des Jahrhunderts oder einem Treffen, bei dem man sich verliebt, der Liebe seines Lebens begegnet: Ich glaube, dann würden sie dennoch die Liebe wählen, die Reinheit, die Transzendenz.
Was ist die Liebe? Was bedeutet es, Liebe zu machen? Man muss unterscheiden. Der physische Akt ist von einer mechanischen Armut, egal, welche besonderen Stellungen man sich einfallen lassen mag. Aber diese ärmliche Mechanik des Aktes wird transzendiert. Liebe machen bedeutet nichts Physisches, sondern ist der Gedanke. Was bringt einen zum Höhepunkt? Der Gedanke. Was bewirkt diese Transzendenz? Was vermittelt ein Gefühl von Unendlichkeit? Der Gedanke. Und das Entzücken, die Ekstase, die sich beim Liebemachen einstellen, nehmen etwas Religiöses an. Weshalb hat die Religion immer mit der Sexualität gerungen? Insbesondere mit jener der Frau, deren Orgasmus der viel größere ist und den ich den »durchsichtigen Körper« im Orgasmus nenne. Man fühlt sich auf einmal wie in der Levitation in seinem eigenen Körper. Und ich habe Lust, das zu filmen. Wenn ich das drehe, ist es kein Porno, das ist offensichtlich. Denn wenn man es fühlen kann, ist es sichtbar. So wie Bernini »Die Verzückung der heiligen Theresa« geschaffen hat, will ich das Entzücken auf dem Gesicht eines Schauspielers oder einer Schauspielerin filmen, damit es den Anflug des Verstrahlten hat, das einen anderswo hinführt und nicht physisch ist, sondern einer strahlenden Offenbarung gleichkommt. Alle, die eine Sprache sprechen, verstehen sich mehr oder weniger, aber es gibt dennoch eine absolut universelle Sprache, die man nicht kodifizieren kann – die Sprache des Ausdrucks. Der Ausdruck im Gesicht, der Schimmer, den man im Auge hat, der Muskel, der sich ein ganz klein wenig bewegt und dessen Namen man nicht einmal kennt – all das erzeugt eine Geschichte. Alles, was diese Person denkt, und alles, was sie empfindet. Das ist eine sehr, sehr präzise Sprache. Die von der ganzen Welt verstanden werden kann und mit der just das Kino arbeitet. Das fesselt mich.
Das ist aber nicht das, womit der Pornofilm arbeitet, nicht wahr? Die armen jungen Leute. Sie sind viel zu jung, mit ihren 13 Jahren, für einen Pornofilm, was denken Sie? Es stimmt und es ist schrecklich. Daher weiß ich nicht, was das für eine Sexualität ergeben wird bei den heutigen Jugendlichen, wenn sie erwachsen sind, wenn sie selbst die Sexualität entdecken. Ich denke aber, dass es ein Desaster wird.
Pornofilme werden überhaupt nicht kontrolliert oder zensiert, sie unterliegen keiner Zensur. Und sie bezeichnen sich selbst als »X«-Filme. Das ist ihre Bewerbung. Nun, ich bin keine Moralistin, aber dennoch denke ich, dass es eine Vergewaltigung der Intimität von Kindern ist. Ihres Verhältnisses zu ihrer eigenen Intimität, die sie noch nicht herausgebildet haben. Man zwingt ihnen gemeine Bilder auf, die von Ungläubigen, von Händlern gemacht werden. Und man zwingt sie ihnen in einem Augenblick auf, in dem sie noch nicht unterscheiden können zwischen dem, was wahr und unwahr ist. Das Wahre kann man nicht filmen, sage ich. Das Wahre ist: Welchen Sinn hat es? und Was will es sagen? Andernfalls hat es keinen Sinn. Es ist sehr verstörend, ich würde sogar sagen kriminell. Ich weiß nicht, was es ergeben wird. Aber ich weiß, dass, als ich klein war, es mich sehr belästigte, dass junge Schauspielerinnen am Anfang ihrer Karriere Fotos von sich im Bett machen ließen, Fanfotos. Ach, das waren Prostitutionsfotos! Sie waren Schauspielerinnen, Stars, und wozu machten sie dies?
Und dann der Unterschied zwischen erotischen und pornografischen Filmen: Das Wort »erotisch« verstehe ich nicht, ich weiß nicht, was es bedeuten soll. Ich verstehe, was Verlangen meint, aber das ist keine Erotik. Ich verstehe, was Liebe meint – das Wort trägt kein Korsett, keinen Büstenhalter. Früher hatte das Wort »Pornofilm« keinen Sinn und das Wort »pornografisch« meinte etwas ganz anderes, etwas Schmutziges und Brutales. Und ich sagte mir: Ich will keine erotischen Filme machen, ich ziehe die Pornografie der Erotik vor. Denn Erotik ist bloß süß, heuchlerisch, ekelhaft, während die Pornografie wenigstens schmutzig ist und eine künstlerische Aussage war. Heutzutage kann man aber natürlich nicht mehr »pornografisch« sagen, weil man die Industrie dahinter sieht. Die sogar die Sprache erobert hat. Und ihr Attribut, das »X«, meint wie durch Zufall auch die Frau, das weibliche Chromosom, und auch das Unbekannte, also das Unbekannte-Weibliche, auch in der Mathematik. Daher habe ich dem Titel »Romance« das »X« beigefügt (A.d.Ü.: Im Vorspann der Originalversion ist der Titel »Romance« mit einem roten X unterlegt) – und wollen Sie wissen, wie dieses X zu »Romance« gekommen ist? Nun, der Film heißt »Romance« und ist offensichtlich keine Romanze, daher musste ich den Titel etwas zerstören. Ich kann ihn nicht ändern, er ist so bekannt und so habe ich schließlich diese Lösung gewählt. Ich strich ihn durch. Es ist das weibliche Symbol in der Mathematik, daher ist es so als würde man die Frau aus dem Universum ausstreichen. Por-no, die Pornokratie, so bezeichnete man in der griechischen Demokratie die Machtübernahme der Frauen, die einen extravaganten Einfluss auf die Demokratie der Männer nahmen. Sie manipulierten sie und das nannte man Pornokratie. Und immer steckte die Frau dahinter.
Das Gespräch fand im Januar 2020 in Wien statt; Übersetzung: Gary Vanisian.
Mit Dank an Jurij Meden und Andrea Pollach (Österreichisches Filmmuseum, Wien).
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