Der Angriff der übrigen Zeit
Mit Niederlagen haben Besitzer von Kinoketten naturgemäß wenig im Sinn. Auch an Verzögerung ist ihnen wenig gelegen, obwohl ihnen ein Aufschub mitunter ganz recht ist. Die Zeit zurück zu drehen, liegt ebenfalls nicht zwangsläufig in ihrem Interesse. Aber »Alamo Draft House« scheint keine Kinokette wie andere zu sein.
Der Name zeugt von einem nicht unkomplizierten Traditionsbewusstsein. In ihm hallte eine mythische Episode texanischer Geschichte nach. Sie handelt von einer Niederlage, die in einem Triumph mündet. Natürlich betreibt die Kette auch etliche Kinosäle in San Antonio, wo 1836 die Schlacht um Alamo ausgefochten wurde, bei der rund 200 Aufständische eine Übermacht von 7000 mexikanischen Soldaten lange genug aufhielten, damit die texanischen Truppen sich neu formieren und schließlich die Unabhängigkeit erstreiten konnten. Der zweite Teil des Namens könnte darauf schließen lassen, das erste Kino sei in einer ehemaligen Brauerei eröffnet worden. Tatsächlich jedoch entstand es in einem früheren Parkhaus in Austin, was 1997 ein heroischer Akt der Rückeroberung gewesen sein muss.
Das Unternehmen betreibt derzeit Kinos an 29 Standorten; die meisten liegen in Texas und dem Südwesten, aber auch in die Nordstaaten hat es schon erfolgreich expandiert. Auf sittsames Verhalten wird streng Wert gelegt. Vor ein paar Jahren machte es Schlagzeilen, als ein Kinogänger des Saales verwiesen wurde, weil er eine SMS absetzte. In einem Alamo Draft House soll nichts vom Filmerlebnis und dem leiblichen Wohl ablenken. Dem Vernehmen nach lohnt sich das, denn die Kinos sind bekannt für ihre einfallsreiche, wenn nicht gar innovative Programmpolitik. Sie zeigt flott konzipierte Reihen und kombiniert Filmvorführungen mit Sing-a-longs, und weiteren Lustbarkeiten. Die Kette gibt sogar eine eigene Online-Zeitschrift mit dem staunenswerten Titel »Birth.Movies.Death« heraus, in der Aufschlussreiches über das aktuelle Programm und die Filmindustrie im Allgemeinen zu erfahren ist.
Angefangen hat die Kette mit Second-Run-Theatern, zeigt längst aber auch brandneue Produktionen. Im nächsten Frühjahr soll ein neues Kinozentrum in Raleigh, North Carolina entstehen, das einen zusätzlichen Service anbietet: »Video Vortex« soll eine Neuninterpretation der klassischen Videothek darstellen. Das darf man durchaus wortwörtlich verstehen, denn neben Blu-rays und DVDs wird man dort auch Kassetten von Filmen ausleihen können, die noch nicht in digitalen Formaten erschienen sind. Gegebenenfalls wird man wohl auch die nötige Hardware dazu mieten können. Über einen solch rückwärtsgewandten Vorstoß würden sich selbst die nostalgischen Bastler meiner Kreuzberger Elektronikwerkstatt amüsieren, die mal meinen Videorekorder mit einem spöttisch vergnügten »Das wird ja eine echte Zeitreise!« zur Reparatur annahmen.
Vermutlich aber kann Alamo Draft House die Bedürfnisse seines Publikums ganz gut einschätzen. Familienvideotheken sind in der US-Provinz angeblich noch ein relativ solides Geschäftsmodell. Mit sachkundigem Personal könnte »Video Vortex« durchaus zu einer cinéphilen Einrichtung werden, wenn Kinobesucher beispielsweise neugierig auf ein bestimmtes Genre oder frühere Filme eines Regisseurs oder Darstellers geworden sind. Die Kassetten kann man in einem Freiumschlag zurückschicken oder beim nächsten Kinobesuch retournieren. Ich schätze, die Videothekare werden Nachsicht üben, wenn sie nicht ordnungsgemäß zurückgespult sind. Falls die Nachfrage in Raleigh groß genug ist, sollen auch an anderen Standorten Filialen eröffnet werden.
Um die kinematographische Versorgung in strukturschwachen Regionen scheinen sich auch die Hacker von »Hive-CM8« bemühen zu wollen. Darauf lässt zumindest das Geschenk schließen, das die dubiosen Idealisten pünktlich zu Weihnachten online machten. Sie waren an die Screener einiger hoffnungsfroher Oscar-Bewerber gekommen, darunter der jüngste Film von Richard Linklater sowie »Ladybird« und »Call me by your name«. Sie verteidigten ihre Wohltat damit, dass Filme im Limited Release eben kaum in die Provinz gelangen, schärften den Nutzern aber ein, dies sei kein Ersatz für den Kinobesuch.
Das klingt sehr nach Wasser predigen und Wein trinken, weshalb ich zum Jahresausklang lieber auf einen der interessantesten Vorschläge hinweisen möchte, die Kinolandschaft für die Zukunft zu rüsten. Ich entnahm ihn vor einigen Wochen einem Festivalbericht aus Hof. Dort stellte die Firma INDIEswitch das »VOD-Portal an der Seite der Kinobesitzer« vor, eine alternative Vertriebsstrategie für Independent-Filme. Die Idee klang Bahn brechend – sie würde das Zeitfenster zwischen Kinostart und Video-on-Demand, das den Streamingdiensten ein Dorn im Auge ist, radikal verkleinern. Mit ihr könnte, so Hanns-Georg Rodek in der »Welt«, sich »ein neues Tor in der Geschichte des Kinos« öffnen. Bislang jedoch scheint die Idee, abgesehen von besagtem Artikel, auf wenig Resonanz gestoßen zu sein.
INDIEswitch will Kinobetreibern fortan die Möglichkeit geben, einen Film auf ihrer eigenen Website zugänglich machen, nachdem sie ihn aus dem regulären Programm genommen haben. Ein reizvoller Gedanken, denn er lässt sie zu Nutznießern ihrer ärgsten Konkurrenz werden. Das Zeitfenster wird sozusagen im Haus selbst geschlossen. Auch die Verleiher dürften sich eventuell auf zusätzliche Einnahmen freuen. Dieses Modell könnte am Veto diverser Interessenten scheitern: den Produzenten, den mächtigen Weltvertrieben und natürlich den Streamingdiensten. Eine wahrscheinliche Konsequenz ist, dass der DVD-und Blu-ray-Markt weiter einbricht.
Die Kinobranche hingegen dürfte dieses Geschäftsmodell erst einmal beruhigen. Es begreift die Kinoauswertung nach wie vor respektvoll als Königsdisziplin. Das rasche Verschwinden kleiner, unabhängiger Spiel- und Dokumentarfilme von den Spielplänen wäre nicht mehr fatal. Mithin dürften vor allem Zuschauer in Regionen, die über kein dichtes Netz von Lichtspieltheatern verfügen, von der digitalen Nahversorgung profitieren. Zu Beginn dieses Monats sollte das Vorhaben online gehen; bestimmt als lokaler Feldversuch. Ich bin gespannt, welche Erfahrungen Kinobetreiber damit machen.
Denn ein solches Durchbrechen der herkömmlichen Verwertungskette wirft natürlich eine ganze Reihe praktischer, juristischer und ökonomischer Fragen auf. Müssen Kartenabreißer nun Weiterbildungen absolvieren, um fit zu sein für das digitale Äquivalent ihrer entgegenkommenden Tätigkeit? Wie soll die Preisstruktur gestaltet werden? Kann, darf man den regulären Eintrittspreis verlangen? (Eher nicht, denke ich.) Mit welchem Kopierschutz kann der Piraterie Einhalt geboten werden? Muss die geographische Reichweite der Angebote begrenzt werden, damit ein Kinobesitzer in, sagen wir mal, Osnabrück seinem Kollegen in Coburg keine unlautere Konkurrenz macht? Und wie wird man weiter denken, wenn sich das Modell als Erfolg erweisen sollte? Müssten Kinobesitzer dann nicht irgendwann auf die Idee kommen, sich Mühe und Miete zu sparen, um fortan nur noch als individuelle Streamingdienste zu operieren? Oder ihr Geschäft gleich an Netflix, Amazon & Co zu verkaufen? Derzeit ist noch nicht abzusehen, ob die Idee nun ein Rettungsring für die Kinobranche ist oder ihr Totenglöckchen läutet. 2018 wissen wir mehr.
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