Nachruf: Ryuichi Sakamoto
Ryūichi Sakamoto © Joi Ito
Der Weltenbummler
»Ich weiß nicht, wie viel Jahre ich noch habe«, sagte Ryuichi Sakamoto vor einiger Zeit über sein Krebsleiden. »Ich weiß nur, dass ich mehr Musik machen will. Musik, für die ich mich nicht schämen muss, sie hinterlassen zu haben.« Am 28. März 2023 erlag der in Tokio geborene Komponist seiner Erkrankung. Sein Vermächtnis ist enorm. Über vier Jahrzehnte prägte er die Musik- und Kunstszene. Kaum ein Genre hat er ausgelassen. Mit seinen Bandkollegen des Yellow Magic Orchestra (Y.M.O.) ebnete er in den 1970er Jahren den Weg für Synthiepop, Techno und Hip-Hop. Als Pianist und Klangkünstler nahm er zahlreiche Alben auf, unter anderem mit Iggy Pop, Youssou N'Dour oder Carsten Nicolai alias Alva Noto. Mit Letzterem schrieb er die atmosphärische Filmmusik zu Alejandro González Iñárritus »The Revenant – Der Rückkehrer« (2015).
Knapp 50 Scores komponierte Sakamoto für das Kino; zusammen mit Gabriel Byrne und Cong Su wurde er für die Musik zu Bernardo Bertoluccis »Der letzte Kaiser« (1987) mit dem Oscar ausgezeichnet. Neben internationalen Größen wie Bertolucci, Pedro Almodóvar (»High Heels«, 1992) oder Brian De Palma (»Spiel auf Zeit«, 1998) schrieb Sakamoto auch für heimische Regisseure wie Takashi Miike (»Hara-Kiri – Tod eines Samurai«, 2011) oder Urgestein Yoji Yamada (»Nagasaki: Memories of My Son«, 2015). Selbst dem Anime war er nicht abgeneigt (»Wings of Honneamise«, 1987), und er komponierte sogar für Videospiele wie »L.O.L.: Lack of Love« (2000), für das er auch als Autor Szenarien entwarf.
Musikalisch ließ sich Sakamoto in keine Schublade stecken und erfand sich mit jedem Soundtrack neu. Das ausladende Streicherthema aus Bertoluccis »Himmel über der Wüste« (1990) steht im krassen Kontrast zu den bedrückenden Soundscapes, die er für die Sci-Fi-Dystopie »Die Geschichte der Dienerin« von Volker Schlöndorff im selben Jahr schuf. Inspiration schöpfte Sakamoto aus den unterschiedlichsten Quellen – die Liebe zu Jazz und Klassik spielte eine ebenso große Rolle wie sein Studium der Musikethnologie und sein Experimentieren mit technologischen Innovationen. Sie bildeten den bunten Nährboden für eine Musik, die keine Grenzen kannte. Weder zwischen Ost und West noch zwischen Avantgarde und Pop, Klassik und Moderne, Kunst und Kitsch.
Unermüdlich war Sakamoto in seiner Suche nach dem richtigen Sound, die ihn manchmal um die ganze Welt führte. Im Stück ZURE aus dem Album »async« (2017) verwendete er ein ramponiertes Klavier, das den Tsunami in Fukushima überstanden hatte. Für den Track »Glacier« im Album »Out of Noise« (2009) fischte er am Nordpol nach dem Geräusch schmelzender Gletscher. »Die Welt ist voller Klänge«, sagt Sakamoto verträumt in der Dokumentation »Ryuichi Sakamoto: Coda« (2017). »Wir hören sie nicht immer als Musik, doch sind die Geräusche musikalisch sehr spannend. Daher habe ich den großen Wunsch, sie in meine Arbeit einzubeziehen.«
Wegen dieser Vielfalt scheint es unmöglich, Sakamotos Klang in Worte zu fassen. Und doch erkennt man ihn sofort, wenn man ihn hört. Die beste Annäherung bietet vielleicht seine Filmmusik für die japanisch-englische Koproduktion »Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence« (1983). In dem Film spielte er eine Hauptrolle neben David Bowie und überzeugte Regisseur Nagisa Oshima davon, ihn auch die Musik schreiben zu lassen. Es war seine erste Arbeit als Filmkomponist. »Merry Christmas, Mr. Lawrence« handelt von einem zähen Ringen zwischen britischen Gefangenen und ihren japanischen Aufsehern in einem Lager während des Zweiten Weltkrieges. Das Aufeinanderprallen der beiden Kulturen versinnbildlichte Sakamoto in seiner Musik, die westliche Orchestermusik, Synthesizer und traditionelle japanische Instrumente zu einem eklektizistischen Ganzen vereint. Eine neue Klangsprache des Weltkinos war entstanden. Sakamotos poetisches Hauptthema weckt Heimweh nach einem Ort, der nicht existiert. Elektrifizierend zieht es den Zuhörenden in Bann, will mehr Gefühlsbild sein als eine Geschichte erzählen. Die inhärente Popqualität des Stücks nutzte Sakamoto, um mit dem Gesang von David Sylvian eine Hit-Single zu produzieren: »Forbidden Colours«.
»Merry Christmas, Mr. Lawrence« bringt Sakamotos Klang auf den Punkt – einen, der sich nicht verorten lassen will, weder geografisch noch kulturell und schon gar nicht musikgeschichtlich. »Asiatische Musik beeinflusste Debussy, und Debussy wiederum mich«, sagte er einmal über sein musikalisches Idol. »Die Musik geht ein Mal um die Welt, so schließt sich der Kreis.« Mit Ryuichi Sakamoto hat die Welt ihren größten Musik-Bummler verloren.
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