Kritik zu Ryuichi Sakamoto: Coda
Ohne Kommentare von Freunden oder Zeitzeugen: Der in Tokio geborene und aufgewachsene Regisseur Stephen Nomura Schible porträtiert den großen Filmkomponisten Ryuichi Sakamoto mit essayistischer Traumlogik
»Die Welt, in der wir leben, ist voller Töne.« Und Ryuichi Sakamoto, aus dessen Mund diese Worte stammen, ist ein geduldiger Tonsammler, und zwar im wörtlichen Sinne. In unzähligen Szenen von Stephen Nomura Schibles Dokumentarfilm »Ryuichi Sakamoto: Coda« sieht man den japanischen Komponisten mit gespitzten Ohren durch die Natur streifen. Im Wald lauscht er dem Zwitschern der Vögel, am Nordpol angelt er im Schmelzwasser mit einem Mikrofon nach Tönen und findet den »reinsten Klang«, den er jemals gehört hat.
Sakamoto ist ein kompositorischer Eklektiker, der auf seinen Soloalben zwischen Jazz, Pop und Neoklassik changiert und dabei immer auch (verfremdete) Klänge aus Zivilisation und Natur in seine Werke integriert. Filmgeschichte geschrieben hat er unter anderem mit seinen Soundtracks zu »Der letzte Kaiser«, »Himmel über der Wüste« und zuletzt zu »The Revenant«. Der Komponist ist auch ein Filmliebhaber, dem Andrej Tarkowskis außergewöhnlicher Umgang mit Sound und Geräuschen als Inspiration dient.
Fünf Jahre lang hat Schible Sakamoto begleitet. Wir sehen den Künstler bei der Arbeit im Studio, bei Recherchen und der Ideenfindung, bei Auftritten mit seiner Elektropopband Yellow Magic Orchestra, die in den 1970/80er Jahren populär war, und bei seinen umweltaktivistischen Auftritten gegen Atomkraft. Der in Tokio geborene und aufgewachsene Regisseur hat aus seinem Stoff allerdings keine klassische Künstlerdokumentation gemacht, sondern eher einen kontemplativen filmischen Essay. Keine Kommentare von Zeitzeugen und Freunden, kein Offsprecher, nicht einmal einer biografischen Struktur folgt der Film, vielmehr schwelgt er in seiner losen Form nachdenklich in den Ausführungen Sakamotos und illustriert sie mit teils traumhaften Bildern.
Bedächtig meditiert Schibles Film über die Vergänglichkeit. Ganz konkret wurde sie für Sakamoto während seiner mittlerweile überstandenen Kehlkopfkrebserkrankung, die im Film noch akut ist und über die er humorvoll, aber mit spürbarer Angst spricht. Insgesamt zieht sich die Vergänglichkeit als Thema durch Sakamotos Schaffen. Er sei schon immer fasziniert von der Vorstellung eines endlosen Tons, quasi als Gegenteil des endlichen Klaviertons, erklärt er. Auf dem Album »Async« hat der Komponist mit einem Klavier gearbeitet, das durch die Tsunami-Katastrophe von 2011 beschädigt wurde. »Ich habe mich gefühlt, als würde ich auf dem Leichnam eines Ertrunkenen Klavier spielen.« Andächtige Worte, die man Sakamoto ohne weiteres abnimmt.
Schible ist Sakamoto sehr nahe, preist den Komponisten unkritisch als politisch engagierten Ausnahmekünstler und zelebriert den künstlerischen Gestus seines Films. »Ryuichi Sakamoto: Coda« ist dennoch kein schales Loblied, sondern eine poetische Ballade auf einen großen Musiker. In der Musik, ganz besonders in der von Sakamoto, geht es zuvorderst um Gefühle. Das hat Schible verstanden und in einen Film übersetzt, durch den man die Welt mit den Augen und Ohren dieses empfindsamen Komponisten sieht und hört.
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