Kritik zu Tori & Lokita

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Mit ihrem neuen Film wurden die Brüder Dardenne 2022 zum neunten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und mit einem speziellen Jubiläumspreis ausgezeichnet. Thematisch und ästhetisch bleiben sie sich treu

Bewertung: 3
Leserbewertung
4
4 (Stimmen: 1)

Lokita (Joely Mbundu) ist angespannt während der Anhörung in Belgien, die über ihr Bleiberecht entscheiden soll. Die Kamera zittert mit ihr. Die Beamtin, die das verschüchterte Mädchen befragt, zeigt Geduld, gesteht ihr eine Pause zu: Sie ist vertraut mit den Traumata von Geflüchteten. Aber die Geschichten, wie Lokita ihren verschollenen Bruder Tori (Pablo Schils) im Waisenhaus wiederfand, fügen sich einfach nicht zusammen. Als »Hexenkind« ist dieser im westafrikanischen Benin von Verfolgung bedroht, und als seine Schwester müsste sie den gleichen Asylstatus erhalten. Aber die Verwandtschaft der zwei ist erfunden und Lokita alles andere als eine begabte Lügnerin.

Tori allerdings ist ein prächtiger Souffleur. Er schärft ihr ein, wie sie bei der nächsten Anhörung antworten soll, er erfindet lauter Details vom Leben im Waisenhaus, die überzeugend wirken. Der Junge, er kann nicht älter als elf Jahre sein, ist einfallsreich, mutig und selbstbewusst. Er weiß, wie der Hase läuft und kann einfordern, was vereinbart war. Die Geschwisterliebe dieser tapferen Lebenshelden ist keine Fiktion, sondern eine herzerfüllte Verschwörung. Tag für Tag erweist sich, wie eng und belastbar sie ist. Abends singen die zwei einander in den Schlaf.

Wiederum haben Luc und Jean-Pierre Dardenne einen Film über das Exil gedreht, über die Sehnsucht, ein »normales« Leben in Europa zu führen: mit echten Papieren und einer legalen Beschäftigung, die es Lokita erlauben würde, die Mutter und Brüder daheim zu unterstützen. Bis es so weit ist, lebt das Gespann im Fegefeuer. 

Tori und Lokita sind in einer Welt der Duplizität gestrandet. Die Schleuser, denen sie noch 620 Euro schulden, operieren von einer Kirche aus. Der Koch des italienischen Restaurants, in dem sie sich ein Zubrot als Gesangsduo verdienen (fünf Euro für zehn Minuten), spannt sie für seinen Drogenhandel ein. Er nötigt Lokita zu erotischen Gefälligkeiten (erst für fünfzig, dann hundert Euro). Was Geldsummen angeht, sind die Dardennes so gewissenhaft wie Buchhalter – selbst in dem italienischen Volkslied, das Tori und Lokita auf der Flucht lernten, kommen »due soldi« vor.

Ihre Ausbeuter geben sich in einem Moment großzügig und freundlich, um dann im nächsten eine verächtliche Brutalität an den Tag zu legen. Ist Tori findig und ist Lokita wehrhaft genug, um dagegen zu bestehen? Der Film gibt kein Versprechen auf Rettung und Erlösung aus, aber er würde es gern. Die Dardennes erkunden die klandestinen Milieus ihrer Filme mit der bekümmerten Neugier von Humanisten. Sie zeigen akribisch, wie diese funktionieren. Diesmal erfährt man ungeheuer viel über versteckte Cannabisplantagen: Infrastruktur, Arbeitsabläufe, Warnsysteme und das Fehlen von Brandschutz. Der gestische Duktus ihres Handkamerarealismus bleibt so unnachgiebig nah an den Figuren dran, dass ein Entrinnen aus dieser Welt unmöglich scheint. Am Ende spendet auch der Gesang keinen Trost mehr.

Meinung zum Thema

Kommentare

Ein großartiger Film von den Dardennes, für mich ein Meisterwerk, Ich würde 5 Sterne geben! Der Film ist spannend und berührend, die beiden jungen Darsteller sind hervorragend,

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