Kritik zu Stockholm
Ein Abend, eine Nacht und der Morgen danach. In der spanischen Version von Richard Linklaters »Before Sunrise« wandelt sich ein Flirt in der Nacht zum leisen Psychothriller am Morgen
Ein Abend, eine Nacht und der Morgen danach. Boy meets girl, er versucht sie zu verführen, sie widersteht lange und gibt dann doch nach, die Stimmung wechselt von reservierter Gleichgültigkeit zu erwachendem Interesse, zu brüsker Abwehr und weichem Nachgeben, und am Morgen wechseln Farbe und Tonfall noch einmal, aus dem schummrigen Licht des nächtlichen Flirts wird die sterile Kühle einer fast unwirklich weißen Wohnung, die zur Bühne für den beunruhigenden dritten Akt wird.
Ganz am Anfang, noch unter den Titeln, unterhalten sich zwei Jungs auf einer Party im Türrahmen über die Exfreundin des einen, die nach Stockholm geht: Du würdest sie doch auch ansprechen und versuchen, sie mit nach Hause zu dir zu nehmen. . . Nach langem Hin und Her muss er zugeben, dass da was Wahres dran ist. Dann folgen seine Augen einer zierlichen, jungen Frau mit traurig-ernster Miene, er spricht sie an, sie wehrt ab, aber er bleibt trotzdem beharrlich dran, lässt sich nicht entmutigen, nicht abschütteln. Daraus entspinnt sich eine Choreografie des Begehrens, ein Spaziergang, dessen Stimmung ein bisschen an Richard Linklaters »Before Sunrise« erinnert, ein junger Mann und eine junge Frau laufen nicht durch Wien, sondern durch Madrid. Während sie reden und flirten, entwickeln ihre Bewegungen und Blicke einen Sog, der eher mit der Stimmung zu tun hat als mit dem Drive einer Handlung. Ja, auch hier könnte es die eine, große, verrückte Liebe sein, oder ist es doch nur das Kabinettstückchen eines Schwerenöters, der von unerwartetem Widerstand angestachelt wird? Wie leicht kann sich das Champagnerprickeln der Nacht im nüchternen Licht des Morgens verflüchtigen; in die Erregung des Abends ist die Ernüchterung des Morgens bereits eingeschrieben.
Auf der Straße vor der Partywohnung steht Ella mit ein paar Freundinnen, die sie auffällig umsorgen und erst überredet werden müssen, sie alleine nach Hause gehen zu lassen. Die Melancholie, die Ella umgibt, scheint ein Grund zur Besorgnis zu sein. Es geht auch um die Verantwortung, die man übernimmt, wenn man einen Menschen zu etwas überredet, gegen das er sich sperrt. Am Morgen stößt Ellas hingebungsvolle Weichheit auf distanzierte Unverbindlichkeit. Doch statt sich in die Defensive zurückzuziehen, leistet sie störrische Gegenwehr: »Es ist nicht fair, dass es endet, wenn du es so willst«, sagt sie und weigert sich, die Wohnung zu verlassen. Das Liebesgeplänkel der Nacht wandelt sich zu einem feindseligen Zank am Morgen. Die Verletzlichkeit, die schon am Abend durchschimmerte, wird jetzt zur unterschwelligen Gefahr. Wer weiß schon, zu was so jemand fähig ist: die Wohnung in Brand setzen, die Möbel zum Fenster rauswerfen, alle Kleider zerschneiden? »Was würdest du tun, wenn ich dir sage, dass ich nicht allein sein kann?«, fragt sie. »Ich würde sagen, dass mir das verdammt egal ist«, blafft er zurück. Kurz darauf tut es ihm leid, aber vielleicht ist das schon zu spät.
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