Kritik zu Morgentau
Filme aus Afrika gelangen selten in unsere Kinos. Die, die uns erreichen, bedienen dann des Öfteren eher Sehgewohnheiten, als dass sie diese herausfordern. Ganz anders stellt sich das im Fall von »Morgentau« von Haile Gerima dar
Der in Äthiopien geborene Regisseur Haile Gerima gilt als wichtiger Vertreter des unabhängigen afrikanischen Kinos. In »Morgentau«, der 2008 auf dem Filmfestival in Venedig mit dem Großen Jurypreis und im Jahr darauf in Ouagadougou als bester Film ausgezeichnet wurde, verfolgt Gerima die Lebensgeschichte eines Arztes namens Anberber in poetischer Engführung mit zwei Jahrzehnten äthiopischer Geschichte, von den 70ern bis in die 90er Jahre hinein. Mit seiner mäandernden Form und einer für den eurozentrischen Blick ungewohnten Filmästhetik zieht dieses 140-minütige Epos den Zuschauer nach und nach in seinen Bann.
In den 70er Jahren studiert Anberber in Deutschland Medizin. Wie sein Kommilitone Tesfaye will er im Anschluss an das Studium nach Hause zurückkehren, um mit seinem Wissen Menschen in seiner Heimat zu helfen. Die Freunde führen auf der einen Seite ein lockeres Studentenleben, mit Partys und Freundinnen. Andererseits sind sie Teil einer politischen Bewegung, die sich für den Systemwechsel in der Heimat starkmacht. Nach dem Sturz des äthiopischen Kaisers und der Übernahme der Macht durch die Kommunisten reist Anberber in den 80er Jahren nach Addis Abeba, um dort mit Tesfaye in einem Forschungslabor zu arbeiten. Dieser hat Frau und Kind in Deutschland zurückgelassen. Der Idealismus der engagierten Ärzte wird im sozialistischen Alltag auf die Probe gestellt; mit skeptischen Äußerungen machen sie sich Feinde. Als Anberber vor einem »Volksgericht« zur Selbstkritik gezwungen wird, eskaliert die Lage. Danach wird er im Auftrag des Regimes nach Ostdeutschland beordert und kehrt erst nach dem Mauerfall wieder in sein Geburtsland Äthiopien zurück.
Gerima bettet die Ereignisse mit Rückblenden in Anberbers Erinnerungen ein, als dieser sich Anfang der 90er Jahre in seinem Heimatdorf am Tanasee niederlässt. Eine körperliche Beeinträchtigung geht auf einen Vorfall in seiner Vergangenheit zurück, der angedeutet, aber erst später entschlüsselt wird. Anberber fühlt sich seiner Heimat und deren Tradition entfremdet, ihn plagen Alpträume. Wie ein Geist bewegt er sich durch das Dorf, das vor staatlichen Repressalien nicht gefeit ist: Armeesoldaten stürmen über die Felder, um Jungen zwangsweise zu rekrutieren. Erst ein spirituelles Ritual, dem sich Anberber widerstrebend auf den Rat seiner Mutter hin unterzieht, löst seelische Blockaden. Er kann die distanzierte Haltung aufgeben, um sich seiner Geschichte zu stellen und den Menschen, die ihren Part darin einnehmen; in der Folge entfaltet sich eine ironisch verspielte, aber auch wieder vom Druck der Gesellschaft bedrohte Liebesgeschichte.
Haile Gerima, der 1968 in die Vereinigten Staaten emigrierte, verortet den Selbstfindungsprozess seines schutzlosen Protagonisten in einer Natur, die mit verschwenderischen Sonnenuntergängen über idyllischen Landstrichen Raum für eine Identitätssuche zwischen Vergangenheit und Gegenwart bietet. Das ist in originärer Erzählform und Visualität ebenso rätselhaft wie faszinierend umgesetzt und fordert Sehgewohnheiten auf jeden Fall heraus.
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