Kritik zu Lingui
Mahamat-Saleh Haroun rückt zwei zu allem entschlossene Frauen in den Fokus und lässt sie selbstwirksam und dank weiblicher Solidarität über das Patriarchat triumphieren
Amina lebt als alleinerziehende Mutter einer unehelich geborenen Tochter in N'Djamena im Tschad. Von der eigenen Familie wurde sie früh verstoßen, musste die Schule abbrechen, auf eigenen Beinen stehen. Für ihren Lebensunterhalt weidet sie in schweißtreibender Handarbeit Autoreifen aus und flicht aus den so gewonnenen Drähten Körbe, um diese zu verkaufen. Es ist ein hartes, aber auch ein selbstbestimmtes Leben. Aminas 15-jährige Tochter Maria besucht das Lycee, sie bewohnen ein kleines Haus, im Innenhof spielen ein Hund und eine Katze. All das gerät in Gefahr, als Maria ungewollt schwanger wird – und abtreiben will. Der Wunsch der Tochter konfrontiert Amina nicht nur mit der eigenen Vergangenheit. Auch ihr Glaube und das Gesetz im Tschad verbieten Abtreibungen. Ein illegal und heimlich, trotzdem medizinisch sicher durchgeführter Eingriff scheint jedoch unbezahlbar.
Dem selbst im Tschad geborenen Regisseur Mahamat-Saleh Haroun gelingt es, aus dieser Konstellation keine stereotype Leidens- und Opfergeschichte »made in Africa« zu machen, sondern realistisch und packend von weiblicher Selbstermächtigung zu erzählen. Dabei ist »Lingui«, der im Wettbewerb von Cannes Premiere feierte, sein erster Film, in dem Protagonistinnen im Zentrum stehen. Achouackh Abakar gibt Amina als kämpferische, zu allem entschlossene Frau, die sich immer mehr von den Männern in ihrem Leben – wie dem scheinbar hilfsbereiten Nachbarn oder dem tadelnden Imam – emanzipiert. Überhaupt spielen Männer hier eine untergeordnete Rolle.
Amina und Maria gelingt es, sich selbst aktiv und mit Hilfe anderer, solidarischer Frauen zu retten. Neben einer mutigen Hebamme und einer Heilerin, die lapidar anmerkt, auch Beschneidungen vorzutäuschen, um Mädchen vor der grausamen Genitalverstümmelung zu bewahren, ist das auch Aminas Schwester Fanta. In der Beziehung zu ihr kommt das titelgebende Lingui als besondere emotionale Verbindung zweier Menschen ins Spiel. Wie Maria (Rihane Khalil Alio) schwanger wurde, ist daher bis zum Schluss fast nebensächlich. Sie bleibt konsequent bei ihrer getroffenen Entscheidung, die der Film zu keiner Zeit hinterfragt. Das eigentliche Martyrium, das zeigt Haroun sehr deutlich, sind die Widerstände, die Maria bei der Umsetzung dieser Entscheidung überwinden muss.
An Originalschauplätzen im Tschad gedreht, wirkt »Lingui« durchweg authentisch. Mathieu Giombinis Kamera fängt ein, wie Mutter und Tochter ihren Kampf um Selbstbestimmung mit Schweiß, Tränen und auch ein wenig Blut führen. Durch den Fokus auf ihre Entwicklung statt auf die spezielle Situation im Tschad ist die Geschichte zudem allgemeingültig: Auch Frauen in Teilen Europas, den USA oder Südamerika sehen sich mit Verschärfungen des Abtreibungsrechts konfrontiert. Das dadurch erzeugte Leid ist universell. Haroun lässt »Lingui« aber bewusst nicht in einer Tragödie, sondern in einem rauschenden Fest und mit drei lachenden Frauen enden, die das Patriarchat zwar noch nicht gestürzt, aber ihm zumindest ein Schnippchen geschlagen haben.
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