Kritik zu Familie zu vermieten
Der einsame Superreiche und die arbeitslose alleinerziehende Tussi bilden in Jean-Pierre Améris' (»Die Anonymen Romantiker«) Film eine Patchworkfamilie gegen jede Chance. Ein absurdes französisches Kinomärchen
Er lebt mit seinem Butler in einer riesigen Villa, das postmoderne Äquivalent eines verwunschenen Schlosses. Er ist unendlich reich und unendlich melancholisch. Ein Verzweifelter am Sunset Boulevard des Neoliberalismus, von Benoît Poelvoorde, dem Maestro der belgisch-surrealistischen Komik, gespielt als europäisch angerichteter Mix aus Norman Bates, Buster Keaton und Batman. Sie lebt mit zwei kleinen Kindern in einem baufälligen Häuschen in einer ärmlichen Gegend. Sie ist extrem, verschuldet und extrem vital. Ein weiblicher Desperado am Rande der Stadt und der Gesellschaft, von Virginie Efira, der belgischen Meisterin einer poetisch-ordinären Sinnlichkeit, gespielt als Melange aus Giulietta Masina, Aschenbrödel und Pretty Woman. Die vulgäre Schöne und das Milliardärbiest...
Die Geschichte ist aber dann komplexer und widerspenstiger, als man auf den ersten Blick annimmt. Gerade die Betonung des Wunderlichen sowie ein absurder Slapstick aus Soziologie und Psychologie heben den Film von Jean-Pierre Améris aus der Welle französischer Feelgoodkomödien hervor. Paul-André mietet sich gleichsam aus therapeutischen Gründen in Violettes Familie ein. Der Mega-Nerd, der Emotionen gegen Logarithmen getauscht hat, zieht zu Violette, die das Risiko ihrer Gefühle nie abschätzen kann. Paul-André wirkt freilich wie ein Alien in Violettes Familie. Er ist kein Lover, kein Ehemann, kein Familienvater, sondern entpuppt sich als weiteres Kind. Doch die bodenständige Violette hat ihrerseits etwas von einem gealterten Girlie. Paul-André und Violette, sie spielen gewissermaßen Familie zwischen Pedanterie und Chaos.
Ganz allmählich wird dabei aus Améris' recht synthetischer Konzeptkomödie ein wild und beinahe organisch wuchernder Liebes- und Familienfilm. Paul-Andrés übermächtige Mutter kommt ins Spiel; Violettes Bruder taucht auf, ein Traumtänzer, der seine Schwester oft ausnutzt; und dann sind da noch Violettes Kinder: der kleine Sohn, der sich in ein Kopfkino flüchtet, die schwierige Teenietochter, die Dostojewski liest. Ein beinahe pflanzlich anmutendes Familiennetzwerk entsteht, dessen psychosozialen Wildwuchs Améris in vegetabilen Bildern darstellt. Szenen spielen im Wald. Violette arrangiert, um ihre Nerven zu stärken, kleine Skulpturen aus Obst und Gemüse.
Der Showdown findet dann passend auf einem Anwesen statt, das von einer verfallenden Parkanlage umgeben ist. Es handelt sich um das Anwesen von Paul-Andrés Mutter, die von keiner Geringeren als Edith Scob verkörpert wird, der großen Actrice des fantastischen französischen Kinos von Franju bis Carax. Seelen werden dort entblößt, Porzellan geht zu Bruch. Die Mutter ist sicherlich ein Monster, aber selbst verletzlich. Denn keine Figur wird in dieser kleinen wunderlichen Komödie verraten, jeder Charakter in Améris’ fragiler und utopischer Außenseiterbande behält seine poetisch-absurde Schönheit.
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