Kritik zu 303
Vielleicht gibt es im Kino nichts Schöneres als einer Liebesgeschichte beim Werden zuzusehen. Hans Weingartner jedenfalls ist mit seiner Romanze on the road einer der besten deutschen Filme des Jahres gelungen
Es ist das Ende des Semesters, der Sommer steht vor der Tür. Eigentlich eine schöne Zeit. Jule studiert Biologie und versemmelt gerade eine wichtige Prüfung. Jan erfährt von seinem Politik-Professor, der gerade seine Zuhörer in die Semesterferien verabschiedet, dass er sein Stipendium nicht bekommen wird. Zu liberal sei sein Antrag gewesen für die konservative Adenauerstiftung. Jule ist schwanger, ihr Freund ist in Portugal. Und Jan beschließt, seinen leiblichen Vater in Spanien zu besuchen, von dem er erst seit ein paar Jahren weiß und den er noch nie gesehen hat. Jule besitzt ein altes Campingmobil auf Mercedes-Basis, Typ 303, und macht sich auf die Reise. Jan verpasst seine Mitfahrgelegenheit auf einer Autobahnraststätte und will fortan trampen.
Zwei Menschen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, zwei Schicksalsschläge, zwei Lebenswege. Wenn das Kino seine Figuren in Parallelmontage einführt, dann hat das immer etwas zu bedeuten, dann gibt es eine Verbindung – oder es wird sie noch geben. Jule nimmt Jan auf der Raststätte bei Berlin mit, zuerst einmal ist als Ziel Köln angepeilt. Sie reden, was man so redet, wenn man sich nicht kennt, und sie diskutieren über Selbstmord, und dann wird das Gespräch lebhafter: Egoistisch findet Jan einen Selbstmörder, weil er nur an sich denkt und nicht an die Hinterbliebenen. Und dann schmeißt Jule ihn raus, auf einem Parkplatz in the middle of nowhere.
Aber sie werden sich wiedertreffen, auch diese Unwahrscheinlichkeiten liebt das Kino, auf einem anderen Parkplatz, als Jule fast vergewaltigt wird. Und das ist der Auftakt zu einer der schönsten Romanzen im deutschen Kino der letzten Jahre. Aber auch die Liebe will erarbeitet werden. Standpunkte werden abgeklopft, Meinungen hinterfragt, Determinismus steht gegen Materialismus. Man könnte Alfred Edel zitieren, der in »Das Casanova-Projekt« sagt: Wenn man sich oben näherkommt, dann rutscht man auch unten z'amm. Aber das wäre viel zu grob für diesen zarten Film, der seinen Protagonisten Entwicklungen und Abschweifungen gönnt, nicht nur argumentatorisch, sondern auch örtlich. Die fast zweieinhalb Stunden Filmzeit werden nie zu lang.
Natürlich ist in der Ära der Billigflüge die Fahrt in einem Wohnmobil von Berlin nach Portugal ein Anachronismus. Jule und Jan, das sind irgendwie Aussteiger, junge Leute, die auch Zeit brauchen, die eine, weil sie eine Entscheidung über ihre Schwangerschaft treffen muss, der andere, weil er nach seinen Wurzeln, seiner Identität sucht. Die Helden von Hans Weingartner sind immer quasi Herausgefallene oder Menschen, die sich bewusst herausgestellt haben, wie die jungen Leute in seinem bekanntesten Film »Die fetten Jahre sind vorbei« (2004), die in die Wohnungen begüterter Menschen einbrechen, zwar nichts stehlen, aber die Möbel verändern und Sprüche hinterlassen wie »Manche Menschen ändern sich nie«. Ein poetisch-politisches Statement. Und politische Statements gibt es auch in »303«, wobei sie hier eher ins Grundsätzliche gehen, wenn Jan und Jule über die Vereinzelungsstrategien im Kapitalismus oder die Natur des Menschen diskutieren.
Schon in »Die fetten Jahre sind vorbei« trugen Daniel Brühl und Julia Jentsch die Namen Jan und Jule, so wie jetzt die wirklich großartigen Schauspieler Anton Spieker und Mala Emde. Jan und Julia, das erinnert auch an ein großes Liebespaar der deutschsprachigen Literaturgeschichte, an Jan und Jennifer aus Ingeborg Bachmanns Hörspiel »Der gute Gott von Manhattan« aus den fünfziger Jahren, in dem die Liebenden auch immer von Ort zu Ort ziehen – Hotelzimmer in diesem Film.
Je weiter die Reise in »303« geht, desto persönlicher, desto intimer werden die Gespräche, über Sex, Vertrauen, Nähe und über die Frage, ob letzten Endes doch alles über Duftstoffe geregelt wird. Aber Weingartner versteht es, das Ganze sehr authentisch und subtil zu inszenieren. Einmal in einem Supermarkt hält Jule ein eingeschweißtes Stück Fleisch in der Hand, etwas angewidert, und packt es dann doch in den Einkaufskorb. Eine Geste der Zuneigung: Jan grillt gerne.
Und wie geht die Reise für die beiden aus? Wahrscheinlich können Sie das, wenn Sie oft im Kino waren, ahnen. Und falls nicht: dann haben Sie 145 magische Minuten Zeit, das zu erfahren.
Kommentare
303
habe 303 einmal ganz gesehen und dann
zeitversetzt die 5 Folgen, ich glaube 4 - 5 mal.
So eine Faszinazion von Darstellern, Themen
und Panoramen habe ich trotz 72 Jahren nie
gesehen. Leider ist der Film herausgenom-
men worden.
LG MB
303
Einfühlsam, dezent, natürlich, vielschichtig. Man sieht, wie sich die beiden Protagonisten näherkommen, spürt Jules Zerissenheit am Ziel in Portugal und leidet mit Jan: kommt sie überhaupt zurück, und wenn ja, ist es ein NEIN oder JA? Neugierig? Ansehen, und der Film hätte auch länger sein können.
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