Retrospektive: »The Crowd« (1928)
Welch ein subtiler und eindrücklicher Stimmungsmaler King Vidor war, zeigt wie kein anderer der Filme, die ich auf der diesjährigen Retrospektive kennenlernen durfte, sein später Stummfilm »The Crowd« von 1928. Eines der großen Vidor-Werke, der Film wird in ungefähr jedem der Essays im Bertz+Fischer-Retro-Begleitband erwähnt.
Erzählt wird die Lebensgeschichte von John Sims, geboren am 4. Juli 1900 – Nationalfeiertag, und dementsprechend wird er von seinem Vater dazu erkoren, später einmal was Großes zu sein. Wie es vermutlich jeder Vater jedem Jungen in Amerika vorgibt. Weil der Sohn etwas Besonderes ist… Und später dann doch wie hunderte, tausende, Millionen andere an gleichförmigen Schreibtischen gleichförmige Arbeit verrichten wird.
Vidor fängt, wie oft, ausdrücklich mit Komik an. Die Zwischentitel sind ironisch, die Situationen witzig, und so entsteht eine Atmosphäre der Leichtigkeit, zugleich des genauen Blicks auf die kleinen Details im Alltag, die einem auf heitere Weise das Herz erwärmen. Da sitzen Johnny und seine Kumpels im Alter von 12 Jahren vor dem Haus, was werden sie wohl im Leben tun? Prediger; Cowboy; Johnny weiß: Mein Vater sagt, ich werde mal jemand! Und dann kommt die Krankenwagenkutsche, und Johnny geht ahnungsvoll ins Haus, und von oben, perspektivisch verengt, sehen wir die Treppe hinunter, die Menge an Menschen, und der kleine Johnny, der langsam hochtapst… »Vidors Filme sind voll von beeindruckenden Kulissen und Visionen, von atemberaubenden Bildern, die das Drama verkörpern, das seine Figuren durchleben", schreibt Martin Scorsese im Retro-Begleitbuch: »Ich denke besonders an die berühmte forcierte Perspektive in »The Crowd«, als der Junge die Treppe hinaufgeht und erfährt, dass sein Vater gestorben ist – das Bild erschüttert mich jedes Mal aufs Neue.«
Erschütternd, ja – insbesondere im Kontext, der das Leben selbst in all seiner Komik und Tragik und Absurdität zum Thema hat.
John heiratet Mary, sie bekommen zwei Kinder, und in fünf Jahren schafft es John, eine Gehaltserhöhung von acht Dollar zu bekommen. Dann fällt ihm ein toller Werbespruch ein, er sendet ihn ein, ein unwahrscheinlicher Geldsegen von 500 Dollar schneit ins Haus. Ein neues Kleid! Ein Roller! Eine Puppe! Wie die Kinder springen John und Mary durch die Wohnung, rufen zum Fenster hinaus den Kinder zu, die hüpfen ebenfalls vor Freude, das Herz des Zuschauers hüpft ebenfalls – bis dieser enorme Lastwagen auf die Kamera zuläuft, und ein kleines Mädchen tödlich verletzt auf der Straße liegt. Vidor schafft es, ohne prätentiös, kitschig oder billig auf der Gefühlsorgel herumzutrampeln, das himmelhoch Jauchzende und das zu Tode Betrübte nebeneinander zu stellen. Eine Reise durch Hoch und Tief, für die Protagonisten wie für die Zuschauer.
Und wieder einmal eine gnadenlose Gesellschaftsanalyse im Entertainment-Gewand. Denn immer geht es um John, um seine Perspektive – und immer stellt Vidor diesem John und dessen Perspektive die anderen gegenüber, insbesondere seine Frau Mary: John ist ein Bruder Leichtfuß, der Luftschlösser baut, immer das Ziel vor Augen, einmal was Großes zu werden, und niemals selbst in diese Richtung aktiv werdend. Mary rackert sich ab, schmeißt den Haushalt, kümmert sich um John und die Kinder. Wunderbare Szenen von feiner Komik: John im Büro, ein Anruf, Mary im Kreißsaal! Er eilt ins Krankenhaus, weiß nicht wohin, keiner redet mit ihm, er ist völlig fertig – und auf den Bänken in der Reih' sitzen all die anderen werdenden, wartenden Väter… Dann endlich, an ihrem Bett, und ganz ohne Ironie und Sarkasmus tröstet sie ihn: Wie sehr du leiden musstest, sagt die Frau, die verschwitzt, erschöpft und am Ende ihrer Kraft im Krankenbett liegt. Später ein Picknick, John spielt Ukulele, das macht er gern, und seine Frau brutzelt Speck, kocht Kaffee, beruhigt die Kinder, bis der Kuchen ruiniert ist und der Kaffee auf den Speck fließt, und John hilfreich anmerkt: Oh, Mary, das Feuer ist dir ausgegangen…
Die Johnperspektive des Traumes und die Perspektive auf die anderen, durch die anderen: Jeder will sich von allen abheben, und damit sind alle gleich.
»Ein Mensch der Masse« lautet der deutsche Verleihtitel, eine Masse von Leuten, die wissen, dass sie zu Höherem berufen sind. Von Leuten, die den amerikanischen Traum träumen, aber niemals leben können.
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