Sichtbare Magie
Es war gewissermaßen meine erste Dienstreise. Ich wollte gut vorbereitet sein. Im Flugzeug studierte ich alte Artikel und ging die Notizen durch, die ich beim Sehen seiner Filme gemacht hatte. Mein Sitznachbar, ein schätzungsweise sechzigjähriger Herr, verfolgte mein Treiben mit wohlwollender Neugier. Seine kurze Begrüßung und sein Blick verrieten mir, dass er Amerikaner war und wir bald ins Gespräch kommen würden.
Er zeigte auf ein Foto in einem der Zeitschriftenartikel. "He's a filmmaker, isn't he?" fragte er, "made a few films with that german actress." Sogar deren besten Filme, stimmte ich ihm zu. Mein weltoffener Nachbar teilte meine Ansicht nicht. "I didn't really like them," entgegnete er skeptisch, "too french for me." Ich erklärte ihm, dass der Filmemacher Claude Sautet hieß (und die Schauspielerin Romy Schneider) und ich auf dem Weg sei, ihn zu interviewen. Nach einigen höflichen Nachfragen von seiner Seite wechselten wir das Thema. Er war Naturwissenschaftler und nahm an europäischer Kultur ein eher agnostisches Interesse. Zum Abschied wünschte er mir viel Glück.
Das hatte ich. Das Interview sollte bei Käfer in München statt finden, was ich als gutes Omen nahm, denn Bistro- und Restaurantszenen sind ein unentbehrlicher Teil von Sautets filmischem Universum. Als er kam, zeigte er sich besorgt, dass es vielleicht zu laut für ein Gespräch sein könnte. Der Verleih hatte vorsichtshalber jedoch ein Separee für uns reserviert. Andererseits hätte ich gern beobachtet, ob er die anderen Gäste gemustert und gelauscht hätte, was sie in der ihm fremden Sprache miteinander beredeten. Er bestellte Fisch und empfahl dazu einen Pouilly Fuissé, der ihm, wie er erklärte, unter den französischen Weißweinen am liebsten sei. Seither ist er es auch für mich.
Er war ein gewissenhafter Gesprächspartner, großzügig, klar und präzise. Anekdoten lagen ihm nicht, er zog es vor, über die Charaktere in seinen Filmen zu sprechen und deren Darsteller. Mit den Filmfiguren rechnete er messerscharf ab, was mich erstaunte, da mir sein Verhältnis zu ihnen stets freundschaftlich erschienen war. Über die Schauspieler sprach er ebenso offen, wenn auch mit größerer Sympathie. Urteile fällte er mit Skepsis und ohne Ironie. Ich fragte mich, ob es seinen Schauspielern auf dem Set wohl manchmal mulmig wurde, von so einem unbestechlichen Menschenkenner geführt zu werden. Jedenfalls lehrte er mich, fast absichtslos, aber doch unbeirrt, seine Filme anders zu sehen. Nie wieder habe ich einen Regisseur erlebt, der sich so gründlich und selbstkritisch Rechenschaft über die eigene Arbeit ablegte.
Der Anlass unserer ersten Begegnung war der Deutschlandstart von »Einige Tage mit mir«, mit dem er nach einer langen Krise 1988 einen Neuanfang wagte. Bis dahin waren die Protagonisten seiner Filme Männer seines Alters gewesen, nun wandte er sich jüngeren Figuren zu. Er erfand sich und sein Kino nicht komplett neu – wir konnten an viele Motive und Stilmerkmale anknüpfen, die schon zuvor in seinem Werk aufschienen -, aber ging mit einem neuen Elan an sein Metier heran. Er kehrte bis dahin verborgene Seiten seines Temperaments und auch Wesens hervor. Das war auch der Zeitpunkt, in dem man in Deutschland anfing, ihn mit etwas anderen Augen zu betrachten. Als Einzelgänger, der nicht zum Umkreis der Nouvelle Vague gehörte, war er der deutschen Filmkritik immer verdächtig gewesen; vor allem jener, die in ihrer Sicht auf das französische Kino treu den "Cahiers du cinéma" folgten. Er erschien ihnen zu bürgerlich, zu konventionell. Als Autorenfilmer mochte man ihn nicht ernst nehmen. Seine Filme waren einfach zu erfolgreich an der Kinokasse. Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen, aber damals hegte man gegenüber französischen Regisseuren, deren größte Sorge es war, ihr Publikum nicht zu langweilen, noch große Vorbehalte. Die erste wirklich kenntnisreiche Kritik schrieb meiner Erinnerung nach Hans C. Blumenberg zum Start von »Mado« 1976 über ihn. Es ist fraglich, ob dieser Text viel änderte an der grundlegenden Haltung gegenüber Sautet. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, dass meine Begeisterung für sein Kino ziemlich undeutsch war.
Umso erstaunlicher ist es, dass nun das Berliner Arsenal ihm eine Retrospektive widmet, die zuvor im Kommunalen Kino in Nürnberg lief. Ich vermute, dass diese eher dem experimentellen, strengen, unbürgerlichen Kino zugeneigte Institution damit ein Stück weit über ihren eigenen Schatten springt. Gut so. Vom 5. bis zum 30. Juni kann das Publikum dort nun einen Pointillisten der Gefühle wiederentdecken, einen unerbittlichen Porträtisten der Bourgeoisie und ihrer nicht gewagten Gefühle, einen Meister der atmosphärischen Facettierung. Seine Filme kommen ohne äußere Dramatik aus, spektakulär sind sie in ihrer Achtsamkeit für Gesten, Blicke und den epigrammatischen Reichtum der Alltagssprache. Seine Kunst entfaltet sich in der musikalischen Anordnung kleiner, aber unvergesslicher Momente. Ungeheuer viele dieser Momente haben mich im Laufe der Jahre berührt. Aber merkwürdig, am stärksten ergreift mich der Abschied von Nelly und Monsieur Arnaud in seinem letzten Film, die Umarmung, die keine ist. Vielmehr ergreift er ein letztes Mal ihre Hände mit einer altmodischen Feierlichkeit, die ihre Distanz aufrecht erhält und bewahrt damit ein Geheimnis, das Sautet all seinen Figuren zugestand.
Von unserer ersten Begegnung bei Käfer nahm ich am Ende des Interviews ein Zündholzheftchen mit, das ich noch immer in einer Schublade aufbewahrt habe. Später sind wir uns noch häufiger begegnet, einmal bei der 100-Jahrfeier des Kinos in Lyon, wo wir im Bus nebeneinander standen und er von seiner Liebe zum Jazz sprach. Wir trafen uns weiterhin zu Interviews, die er aus einem bereitwilligem Pflichtgefühl heraus führte. Er wiegelte ab, wenn ich ihm versprach, ihm die publizierten Texte zu schicken. Jahre später erfuhr ich, dass er tatsächlich jedoch alles aufbewahrte, was über seinen Filme geschrieben wurde. Selbst Ankündigungen in Programmzeitschriften schnitt er aus, wenn sie im Fernsehen liefen. Einmal traf er durch meine Vermittlung eine Freundin, die ihre Magisterarbeit über die Männerfiguren in seinen Filmen schrieb, zu einem ausführlichen Gespräch. Ihre Arbeit ist, wie viele großartige Texte über ihn, in einer Ausgabe der Zeitschrift steadycam erschienen. Zum letzten Mal sah ich ihn, als ich eine Fernsehdokumentation über seinen letzten Drehbuchautor Jacques Fieschi drehte. Sofort erklärte er sich bereit, mitzuwirken, denn er fand, dass das Drehbuchschreiben ein schweres und nobles Metier ist. Gedreht haben wir das Interview bei seinem Agenten, dessen Assistentin mich in einer Pause beiseite nahm. "Wir sähen es so gern", flüsterte sie mir zu, "wenn er noch einmal einen Film drehen würde. Reden Sie ihm doch bitte zu!"
Ich weiß nicht, wie weit sein Krebs damals schon vorangeschritten war. Er nutzte die letzten Jahre, um sieben seiner Filme noch einmal neu zu schneiden. Manche veränderte er dabei wesentlich, bei anderen schnitt er nur ein, zwei Minuten heraus. Er wollte sie von allem befreien, was ihm redundant erschien. Im Arsenal lassen sich einige dieser Retuschierungen mit der ursprünglichen Fassung vergleichen. Leider läuft dort nicht die schöne Dokumentation, die N.T. Binh über ihn drehte: »Claude Sautet und die unsichtbare Magie«. Er ist übrigens mein Pariser Gastgeber, der in diesem Blog schon häufig auftauchte. Unsere Freundschaft entstand aus unserer Liebe zu diesem Regisseur. Binhs Kritik über »Ein Herz im Winter« in "Positif" hatte mich Jahre zuvor ungemein beeindruckt. Dass er auch ein exzellenter Koch war, durfte ich bei seiner ersten Einladung entdecken. Sie können sich denken, welchen Weißwein ich dazu mitbrachte.
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