90 Prozent
Einmal im Jahr bedauere ich die Mitarbeiter von German Films, der Exportorganisation des deutschen Films, sehr. Dieses Bedauern fällt auf einen festen Termin und auch die Tageszeit lässt sich präzis vorhersagen: Es ist der Nachmittag nach der Pressekonferenz, auf der alljährlich in Paris das Programm von Cannes bekanntgegeben wird. Die Pressemitteilung, die German Films dann verschickt, ist meist sehr knapp.
Zu diesem Zeitpunkt wandelt sich mein Bedauern gelegentlich in Bewunderung, Wacker wird das traditionell klägliche Abschneiden der hiesigen Kinematografie im Hauptprogramm verkündet. Bisweilen entrüstet es mich, wenn Filme mit minoritär deutscher Beteiligung als Erfolg verkauft werden. Dann kehrt das Bedauern zurück, wenn nach Strohhalmen gegriffen wird, etwa bei der Erwähnung von Filmen, die in der Reihe "Cannes Classics" laufen (ja, Billy Wilders Fedora oder Jacques Demys Die Regenschirme von Cherbourg sind auch mit deutschem Geld oder Steuergeschenken entstanden).
In diesem Jahr fiel die Bilanz noch knapper als sonst aus. Drei Kurzfilme in Nebensektionen führt sie auf sowie in der Sektion "Un certain regard" den neuen Film von Radu Muntean, der einen deutschen Co-Produzenten hat. Das könnte sich noch ändern, da das Programm zweier Sektionen noch nicht feststeht. 90 Prozent des Festivals seien fix, verkündete Thierry Frémaux, der sich stets noch ein, zwei Überraschungen vorbehält. Es ist fraglich, ob es so doch noch ein deutscher Beitrag ins Hauptprogramm schafft.
Da auf ein Ritual gern ein anderes folgt, wird man in den deutschen Feuilletons morgen etliche Klagen über eine Festivalpolitik lesen, die Deutschland so systematisch und nachdrücklich außen vor lässt. Auch sie sind vorhersehbar in ihrem Tonfall der enttäuschten, patriotischen Hoffnung. Aber wer würde die seriöserweise hegen jenseits pflichtschuldiger Empörung? Ich persönlich finde die Auswahl Radu Munteans, der zusammen mit dem Drehbuchautor Razvan Radulescu einige der Hauptwerke des rumänische Kinowunders der letzten Jahre geschaffen hat (Das Papier wird blau sein, Dienstag nach Weihnachten), eine erfreuliche Nachricht. Sie zeigt auch, wie schwer und überflüssig nationale Zuschreibungen bisweilen sind. Das Weltkino, das in Cannes läuft, ist eines der Vermischungen, der Neugierde auf die Arbeit mit fremden Darstellern und an fernen Drehorten.
Wie die meisten Regisseure ist Muntean nicht zum ersten Mal in Cannes vertreten. Auch darauf wird eine rituelle Klage in der Vorberichterstattung abheben. Die Liste der Wettbewerbsteilnehmer hält kaum Überraschungen bereit. Über die meisten Namen wurde schon in französischen Blättern und anderswo schadenfroh während der Berlinale spekuliert. Verblüffend ist allenfalls das Fehlen einiger Kandidaten. Momentan kann man nur nach der Papierform urteilen (obwohl mir ein Pariser Kollege bereits versicherte, Stéphane Brizés Film sei hervorragend), und die erscheint mir glänzend. Einige meiner Lieblingsregisseure gehen an der Croisette ins Rennen, darunter Jacques Audiard, Hirokazu Kore-eda, Hou Hsiao-hsien und Jia Zhangke. In diesem Jahr wurde auch die Frauenquote erhöht. Dafür ist im Wettbewerb vor allem Frankreich verantwortlich. Besonders freut mich, dass Marguerite et Julien von Valerie Donzelli dabei ist. Das stimmt mich nicht nur hoffnungsvoll, weil von ihr der wehmütig überschwängliche Das Leben gehört uns stammt. Ihr neuer Film beruht auf einem unverfilmten Drehbuch (da war die Reihenfolge noch andersrum: Julien et Marguerite) von Francois Truffaut und seinem formidablen Szenaristen Jean Gruault. Über ihn wollte ich eigentlich mal meine Magisterarbeit schreiben. Aber davon schweige ich lieber, in dieser Geschichte geht’s ohnehin schon genug um deutsche Misserfolge.
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