Ihre Rundfunkgebühren sind gut angelegt
Selbst als unbescholtener U-Bahn-Passagier hat man in Berlin zuweilen keine Chance, diesem Film zu entkommen. Er scheint hier ständig zu laufen; allein in diesem Monat mindestens zweimal. Diese Allgegenwart darf man zweifellos einem gewissen Hauptstadt-Narzissmus zuschreiben.
Nicht, dass ich etwas gegen Walter Ruttmanns »Berlin – Sinfonie einer Großstadt« einzuwenden hätte; warum sollte ich auch? In Studententagen bescherte es mir ein Hochgefühl, ihn hier zu sehen und mich eins zu fühlen mit der erhabenen Reizfülle der Metropole. Womöglich wird er wieder so oft vorgeführt, damit sich Berlin auch heute als Brennpunkt urbaner Moderne fühlen darf. Braucht die Stadt diese permanente Selbstvergewisserung? Dieser bestimmt interessanten Frage möchte ich heute indes nicht nachgehen, sondern vielmehr das leise Unbehagen zu erklären versuchen, das mir die Omnipräsenz des Films bereitet. In meinen Augen war sie stets ein Indiz für die Verengung des Stummfilm-Kanons. Tatsächlich scheint es nur wenige Titel zu geben, mit denen sich diese heroische Epoche des deutschen Kinos verkaufen lässt. Die Liste fängt mit »Metropolis« an (erinnern Sie sich nur an die Vorführung während der Berlinale vor einigen Jahren am Brandenburger Tor: Was für ein erhebendes Erlebnis, bei Schnee und Regen auszuharren, bis sich Herz und Hirn die Hand geben!) hört ziemlich schnell bei »Nosferatu« auf (den das Filmmuseum Potsdam heuer, gar keine schlechte Idee, als »Halloween Special« mit Live-Begleitung der Open Source Guitars zeigt). Während ich diese Zeilen schreibe, probt gerade Frank Strobel mit seinem Orchester im Konzerthaus am Gendarmenmarkt für ein Filmkonzert, auf dessen Programm nach Arthur Honeggers sinfonischem Satz zum Avantgarde-Film »Pacific 231« eben Edmund Meisels Originalpartitur zum Ruttmann-Film steht. Vor einer Woche erst lief die »Sinfonie einer Großstadt« im Central-Kino, wo sie von Trondhaim elektronisch begleitet wurde.
Diese unterschiedlichen musikalischen Ansätze werden die Großstadtsinfonie ganz anders klingen lassen und sicher gut bekommen. Sie gemahnen daran, dass zur Stummfilmzeit jede Vorstellung einzigartig war, denn die Wahrnehmung des Films wurde maßgeblich geprägt von der jeweiligen Stimmung des ihn begleitenden Pianisten oder Orchesters. Und auch das Publikum verändert sich ja von Vorführung zu Vorführung. Gerade las ich in einem Interview, das Ralph Eue »Kinema Kommunal«, der Zeitschrift des Bundesverbandes Kommunale Filmarbeit über seine Kuratorentätigkeit gab, Erstaunliches. »Wenn etwa »Sinfonie einer Großstadt« in Berlin gezeigt wird,« sagt Ralph darin, »dann ist das Altersspektrum etwa so wie beim ZDF, also 50plus. In Wien kommen Zuschauer zwischen 18 und 80.« Vom ZDF wird noch die Rede sein, allerdings aus rühmlicherem Anlass.
Unterdessen bin ich dabei, meine Reisetasche zu packen, denn morgen Abend beginnt in Bielefeld das »film+musikfest«, das alljährlich die dortige Murnau-Gesellschaft ausrichtet. Das Programm ist eine Mischkalkulation aus Bekanntem und Exotischem. Den Auftakt bildet »Synthetic Sin«, eine wiederentdeckte Komödie mit Colleen Moore, von der ich nie zuvor gehört habe. Besonders freie ich mich auf das Wiedersehen mit Murnaus »City Girl« in der Rudolf-Oetker-Halle, den ich fast noch mehr mag als seinen berühmteren Hollywood-Film »Sunrise«. Mein alter Schulfreund Heiko, der Lesern dieses Blogs inzwischen vertraut sein dürfte, ist besonders gespannt auf die Vorführung von Tim Burtons »Alice in Wonderland«, bei der Danny Elfmans Partitur live eingespielt wird. Einen Tonfilm zu zeigen, ist ein Novum für das Festival, das sein Programm ansonsten kundig mit stummen Entdeckungen von den cinéphilen Festivals in Bologna und Pordenone spickt.
Im Übrigen kann ich mit der Vertonung des Stummfilm-Erbes in Berlin im Monat Oktober durchaus zufrieden sein. Die Bigband der Deutschen Oper etwa begleitete in raffiniert verkleinerter Besetzung unlängst die Laurel & Hardy-Komödie »Liberty«. Und die Komische Oper veranstaltete in der Monatsmitte ein Stummfilmfestival, das zwar nur aus zwei Hauptfilmen bestand, diesen aber ein verteufelt einfallsreiches Rahmenprogramm voranstellte. Ich habe nur den ersten Abend miterlebt, bei dem »Regeneration« von Raoul Walsh lief. Der wurde schon 1915 gedreht und ist ein ungemein zukunftsweisender Gangsterfilm. Der Einsatz der Großaufnahmen, die ungemein ziselierte Lichtsetzung und die Agilität der Kamerabewegungen (vor allem der Rückfahrten) ist schlicht atemberaubend. Auf DVD waren mir diese Qualitäten nicht in diesem Maße ins Auge gefallen. Am Vorprogramm hatte ich beinahe noch größeren Spaß. Es bestand nicht nur aus kuriosen Wochenschauen und der kleineren Großstadtsinfonie »Manhatta« von Paul Strand und Charles Wheeler, den ich noch nie mit einer solch dräuenden Musik gesehen habe (da zeigte sie sich wieder, die oben angesprochene Einzigartigkeit). Überdies gab es treffliche Musik- und Tanzeinlagen, jeder Programmteil gehörte einem eigenen Genre an: ein Quintett, das an die Tradition des Barber-Shop-Gesanges anknüpfte, eine Choreographie der Schattenspiele, Tänzer auf Rollenschuhen etc. Selbst die Instrumente der Jazzband, die den Film begleitete, schienen aus einer vergangenen Epoche übrig geblieben; einzig die Posaune glänzte wie frisch gewienert. Mit der Partitur der Band war ich nicht ganz so glücklich, ihr Changieren zwischen Dixie-Land und Jazzrock ließ mich etwas ratlos zurück.
Das Publikum war indes hingerissen. Leider konnte ich die Vorführung am nächsten Abend nicht miterleben, da ich nicht in der Stadt war. Es wurde Murnaus Molière-Verfilmung »Tartüff« gegeben, für den ich eine große Schwäche habe – weniger wegen des Spiels der deuschen Großmimen Emil Jannings und Werner Krauss, sondern weil ich stets den Eindruck hatte, eigentlich drehe sich alles um Lil Dagovers entzückendes Dekolleté. Allerdings muss ich mich nicht grämen, den Abend verpasst zu haben, denn er lässt sich demnächst digital und im Fernsehen nachvollziehen. Die Filme wurden für Ausstrahlungen auf arte aufgezeichnet. Sie laufen ab dem 9.11. jeweils montags um Mitternacht in der Reihe »Meisterwerke des Stummfilms«. Am 16.11. ist Josef von Sternbergs Regiedebüt »The Salvation Hunters« zu sehen, der zu Beginn dieses Monats im Konzerthaus Wien mit einer Partitur lief, die der Jazzpianist Brad Mehldau für Violoncello, Klarinette und Klavier komponiert hat.
Alle drei Einspielungen gehen auf Kompositionsaufträge des ZDF zurück. Für dieses Mäzenatentum muss man die Filmredaktion, namentlich Nina Goslar, rühmen. Ärgern Sie sich nicht, wenn die GEZ Ihre Gebühren für November einzieht – das Geld ist bestens angelegt. Im Programmheft der Komischen Oper war zu lesen, die Aufzeichnung der gesamten Abendprogramme sei auf der Cinema-Plattform von arte ab dem 22. Oktober abrufbar. Als ich zum letzten Mal vor ein paar Tagen Ausschau danach hielt, war das noch nicht der Fall. Ich wünsche Ihnen, dass Sie findiger (oder geduldiger) sein mögen als ich, denn dieses Vergnügen sollten Sie sich nicht entgehen lassen.
Allerdings habe ich seit einigen Monaten beobachtet, dass arte seine Gepflogenheit aufgegeben hat, zu Beginn der letzten Woche jedes Monats einen Stummfilm zu zeigen. Die Programmpolitik hat sich augenscheinlich geändert. Jetzt ist das Stummfilmerbe als geballte Ladung zu erleben, was dem Ganzen wohl eine Festival-, ja Feststimmung verleihen soll. Nun ja, man könnte auch das Eine haben, ohne gleich das Andere aufgeben zu müssen.
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