Kritik zu Titane

© Koch Films

Der diesjährige Cannes-Gewinner sprengt so ziemlich alle Kategorien. Ist es ein Genrefilm? Ist es ­abgehobenes Kunstkino? Geht es mehr um Serienmord, um Maschinenliebe oder einen ver­lorenen und wiedergefundenen Sohn? In jedem Fall ist der Film eine Erfahrung

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Bereits mit ihrem höchst stilbewussten Erstling, der kannibalischen Coming-of-Age-Geschichte »Raw«, hat die französische Regisseurin Julia ­Ducournau ein Ausrufezeichen gesetzt und dem »Body Horror« in der Tradition David Cronenbergs aufregende neue Impulse gegeben. »Titane« allerdings, in Cannes recht unerwartet mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, ist noch einmal etwas ganz anderes: radikal, monströs, brutal und herausfordernd, dabei aber auch seltsam zärtlich und von eigenartigem Humor. Und es ist so frei wie nur weniges, was das Kino derzeit zu bieten hat.

Dabei könnte man anfangs noch vermuten, man habe es mit der etwas eigenwillig erzählten Geschichte einer Serienmörderin mit Autofimmel zu tun: Nach einer Betrachtung von Automotor-Innereien in Aktion beginnt die Handlung mit einem Crash, bei dem ein Kind schwer verletzt wird. Es folgt eine Operation am offenen Gehirn, bei der dem Mädchen vom eigenen Vater eine Titanplatte eingesetzt wird. Titan: ein ganz besonderes, ungeheuer widerstandsfähiges Metall.

Das Mädchen trägt nun eine auffällige Narbe über dem rechten Ohr, und es fühlt sich zu anderen metallischen Wesen hingezogen, küsst leidenschaftlich das Unfall­auto . . . Einige Jahre später, Alexia (Agathe Rousselle) ist zu einer sehr androgynen Frau geworden, scheint sie ihr Fetischverhältnis zu Maschinen über den Beruf als Tänzerin bei Autoshows auszuleben. Sie ist aber auch eine eiskalte Killerin: Als ein Fan zudringlich wird, tötet sie ihn mit erschreckender Entschlossenheit – nur der erste von mehreren, zunehmend extremen Morden. Außerdem hat sie Sex mit einem Auto, in einem Geschlechtsakt, der von comichafter Irrealität ist – doch gleichwohl zu einer Schwangerschaft führt. Alexia, die Killerin, ist ein verlorenes Wesen. Und jetzt ist sie schwanger von einer Maschine, und aus ihren Brüsten kommt keine Milch, sondern Motoröl.

Dieses Motiv führt der zweite Teil des Films weiter, der zugleich andere Akzente setzt: Alexia verwandelt sich. Auf der Flucht vor der Polizei gestaltet sie sich radikal um – unter anderem indem sie sich selbst die Nase bricht. Sie wird zu Adrien, dem vor Jahren verschwundenen Sohn des Feuerwehr-Kommandanten Vincent (Vincent Lindon), und tritt in dessen Welt ein, eine Feuerwache als eingeschworene Gemeinschaft, fast eine Sekte, in der Vincent Gott ist. Und Gott duldet keine Diskussionen darüber, ob dieser zugelaufene Typ wirklich sein Sohn ist.

Alles in »Titane« wird über die Körper erzählt, über den gequälten Körper Alexias, die sich Brüste und Bauch mit Bandagen abbindet, über die hormongespritzten Muskeln Vincents und die vor absurd überhöhter maskuliner Energie sprühenden Körper der Feuerwehrmänner. Und immer wieder sind diese Körper der Zerstörung nahe, dem Bersten, dem Verzehrtwerden vom Feuer, der (feindlichen?, freundlichen?) Übernahme durch die Maschine.

Vergleiche von Ducournaus Werk mit Cronenbergs »Crash« oder auch Tsukamotos »Tetsuo: The Iron Man« sind ebenso naheliegend wie unergiebig. »Titane« zelebriert mit seinen wuchtigen Bildern und seinem bisweilen sakralen Soundtrack weit umfassender die Verschmelzung des Unvereinbaren. Mensch und Maschine, Muttermilch und Motoröl, Gewalt und Zärtlichkeit, Vaterliebe und erotische Liebe, oder auch Kunst und Trash – in dieser queeren Phantasmagorie wird neben dem Männlichen und dem Weiblichen auch alles andere fluid. 

Die verstörende Vieldeutigkeit des Films kann man wahlweise überspannt oder transzendent finden. Auch lässt der Extremismus der Inszenierung möglicherweise übersehen, dass »Titane« eine sehr melancholische Studie der Einsamkeit ist. Was allerdings kaum zu übersehen ist: die famosen schauspielerischen Leistungen. Agathe Rousselle in der Hauptrolle ist eine sensationelle Entdeckung, und Vincent Lindon war nie faszinierender denn als Vater, der gegen jede Vernunft an dem Glauben festhält, seinen Sohn wiedergefunden zu haben.

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