Kurzfilmtage Oberhausen: Kino im Dschungel
»Der Wechsel«
Die Oberhausener Kurzfilmtage haben sich schon immer als ein Festival der Avantgarde, des Experiments und des politischen Diskurses verstanden. Das bewies auch die 63. Ausgabe
In manchen Teilen gleicht die City von Oberhausen einer Geisterstadt. Viele Geschäfte, sogar in der Fußgängerzone, stehen leer. Nur Wettbüros und Spielhallen scheinen sich behaupten zu können. Diese Leere und Tristesse wird manchmal unterbrochen von pittoresken Häuserzeilen, Parkanlagen und einigen mächtigen, leicht verwitterten Gebäuden, die an glorreiche Ruhrpottzeiten erinnern. Oberhausen ist gewissermaßen eine Stadt der Fragmente aus Erinnerung und unbestimmter Zukunft.
Diese Stadt, mit einigen Schwierigkeiten versehen, beheimatete zum 63. Mal ein beinahe mythisches Filmfestival, das als politisch, komplex, schwierig gilt. Ein Filmfest in einem wunderbaren Kino, das wie eine Lichtung wirkt in der urbanen Landschaft. Mit seinem vielschichtigen Programm aus Historie und Perspektive, ganz der kurzen, experimentell-künstlerischen Form gewidmet, ist das Festival aber den meisten Kinofesten der Metropolen weit überlegen. Auch einer cinephilen Tradition verbunden, sträuben sich die Kurzfilmtage gegen jegliche Feelgood-Atmosphäre. Mehr denn je kann dieses anstrengende und zugleich lustvolle Festival nur in Oberhausen stattfinden.
Die 63. Kurzfilmtage waren eine fast stille und deshalb schöne Ausgabe. Es gab diesmal keinen Event, kein großes Jubiläum, scheinbar keine politischen Verlautbarungen. Man konnte vielmehr die Kontinuität des Festivals erkennen, diese jahrelange Grundlagenforschung, die die Liebe zum Kino pflegt und zugleich das Misstrauen gegenüber den bewegten Bildern lehrt.
Die Sektion »Thema«, stets ein Hauptblock des Festivals, beschäftigte sich mit der Archäologie des Hochaktuellen und Allgegenwärtigen: nämlich mit den sozialen Medien vor dem Internet, also mit Filmen, Videos, TV- und Satellitenprogrammen, die schon auf die aktive Partizipation der Zuschauer setzen. Diese Erinnerung an einen kreativ-politischen Aufbruch war geprägt von einer Melancholie der verlorenen Chancen und einer Skepsis gegenüber gegenwärtigen Entwicklungen der sozialen Medien.
Zukunfts-Skepsis zum Schrecken gesteigert ist ein Charakteristikum der geheimnisvollen Filme von Larissa Sansour, einer Filmemacherin aus Palästina, der ein Profil gewidmet war. In »Nation Estate« reist eine junge Frau nach Bethlehem. Aber Bethlehem ist nur eine Etage in einem riesigen Wolkenkratzer, der vielleicht einen Staat Palästina markiert. Die junge Frau, angekommen auf der Bethlehem-Plattform, ist schwanger... Sansours unheimlicher Marien-Thriller stellt die palästinensische Situation dar als Spieglung der jüdisch-christlichen Kondition oder gar der condition humaine.
Ein weiteres Profil zeigte das Œuvre von Björn Melhus, einem deutschen Künstler, dessen Filme immer wieder in Oberhausen zu sehen waren. Doch diese Retro erst machte deutlich, wie wichtig und einflussreich Kunstfilm ist. Melhus verquickt grandiose Körper-Performance mit einer besonderen Art der Found-Footage-Ästhetik: Die aberwitzigen Charaktere der Filme, fast alle von Melhus selbst verkörpert, sprechen mit »vorgefundenen« Ton-Clips aus alten Filmen. In seinem frühen Opus magnum »Weit Weit Weg« (1995) gibt Melhus gleichsam die kleine Dorothy/Judy Garland aus dem US-Klassiker »Der Zauberer von OZ« und träumt sich aus einer grauen deutschen Stadt ins scheinbar paradiesische Amerika. Melhus’ laute, mit Geschlechterrollen und kulturellen Einflüssen verwegen spielende popartifizielle Märchenfilme durchzieht auch eine gewisse Tristesse, eine geradezu tiefe Sehnsucht nach dem Anderen.
Dekonstruktion und Neuschöpfung: Christoph Girardet, der zu Beginn seiner Laufbahn mit Björn Melhus zusammengearbeitet hat, hebt in seinem neuen Film »It Was Still Her Face« das Found-Footage-Kino in sublime Bereiche. Gewiss der schönste Film der Kurzfilmtage: Gemalte Frauenporträts aus unzähligen alten Filmen, Geliebte und Mütter, Geister allesamt, vergöttert und verteufelt, montiert Girardet zu einem Cine-Poem, nach dem man verändert durch die Straßen Oberhausens schlenderte.
Einen genuin handgemachten Film präsentierten die Kölner Zelluloidrebellen Markus Mischkowski und Kai Maria Steinkühler mit »Der Wechsel« – einem Stummfilm, auf 35 mm gedreht mit einer alten, legendären Kamera mit Kurbelbetrieb, und zugleich ein Kommentar zur gegenwärtigen Wirtschaftslage. Mit Max Lindner, Boudu, Nosferatu und Jaques Tati! Eine Filmperle, bei der Machart und Inhalt zu einer beeindruckenden Einheit finden. Mit einer Stummfilmkamera zu drehen, kann ein Statement sein.
Den großen Preis der internationalen Jury erhielt zu Recht der thailändische Film »500.000 Pee« von Chai Siris. Auf einer Lichtung mitten im Dschungel, auf der man vor geraumer Zeit Überreste des Homo erectus gefunden hat, projiziert eine Handvoll Männer einen 35-mm-Film auf eine Leinwand. Ein gespenstisches Unterfangen: Die Kinovorführung eines Fantasyspektakels wird zum mysteriösen Ritual, beinahe zur Hexenkunst. Ein Besuch in Oberhausen kann auch ein Abenteuer sein, eine Suche im Kurzfilmkosmos nach der Essenz des Kinos.
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