Kritik zu Zwischen uns das Leben

© Alamode Film

2023
Original-Titel: 
Hors-saison
Filmstart in Deutschland: 
02.05.2024
L: 
115 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Ein Mann und eine Frau, die sich außerhalb der Saison an einem Küstenort wieder begegnen – das hat Claude-Lelouch-Potenzial. Aber Stéphane Brizé hat nicht Verzauberung im Sinn, sondern deren Gegenteil. Magie stellt sich trotzdem ein

Bewertung: 4
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Dies ist ein Film für Menschen, die Nuancen mögen. Er besteht aus Situationen, die hundertmal im Kino zu sehen waren. Die Entwicklung, die seine Geschichte nimmt, scheint unausweichlich. Seine Dialoge überraschen nicht. Wie kommt es nur, dass Stéphane Brizé das Vertraute dennoch zum Vibrieren bringt?

Schon der Schauplatz ist ein Déjà-vu, ein Ferienort am Meer in der Nachsaison, dem per se Melancholie innewohnt. Auch sein vorläufiger Protagonist besticht nicht durch Originalität. Allerdings hat es Brizé stets verstanden, seine Figuren durch ihren Beruf zu charakterisieren. Der erfolgsverwöhnte Filmschauspieler Mathieu (Guillaume Canet) zieht sich für einige Tage in ein Luxushotel zurück, um sich bei einer Thalassotherapie zu erholen. Das Älterwerden ist eine Sorge, mit der er nicht nur kokettiert. Allenthalben wird er um Selfies gebeten. Er steckt in einer Sinnkrise; auch das eine wohlige Konvention. Aber diese ist gravierend, denn sie wurde durch ein unverhofftes Scheitern ausgelöst. Vier Wochen vor seinem Debüt als Bühnenschauspieler hat er brüsk aufgegeben und das Ensemble im Stich gelassen. Nun nagen Schuldgefühle an ihm und die Erkenntnis, dass es ihm an Mut gebrach. Seine Frau, eine erfolgreiche Fernsehmoderatorin (Brizés Co-Autorin Marie Drucker spielt gewissermaßen sich selbst, ist aber nur als Telefonstimme präsent), sieht das pragmatischer: schlimm, aber kein weltstürzendes Drama.

Im aseptischen Einerlei seines Wellness-Urlaubs erreicht ihn der Brief von Alice (Alba Rohrwacher), die in dem verschlafenen Küstenort mit Mann und Tochter wohnt und als Klavierlehrerin arbeitet. Vor 15 Jahren waren sie ein Paar; es ging nicht gut aus. Eine romantische Verheißung könnte ihre Wiederbegegnung dennoch sein. Sie steht unter dem Vorzeichen eines heiklen Ungleichgewichts. Es treffen eine vermeintlich glamouröse und eine vermeintlich bescheidene Existenz aufeinander. Die Verlegenheit lähmt sie beim ersten Wiedersehen fast. Das Trennende ist groß. Mathieu ist es gewohnt, auf den Charme der Selbstironie zu setzen. Aber er spürt, dass Routine fehl am Platze ist. Sein Kompliment, sie sei aufgeblüht in ihrem neuen Leben, verfängt nicht. Alice begegnet ihm mit sanfter Unnachgiebigkeit – es ist leicht, sich Jahre später zu entschuldigen –, nun gilt es, aufrichtig zu sein und den richtigen Tonfall zu finden. Bei ihr brechen alte Wunden auf. Damals hätte sie seine Ermutigung gebraucht, um eine Karriere als Pianistin zu beginnen. Er hatte keine Ahnung, wie es ihr erging. Canet liegen Figuren, deren Tiefe und Einfühlung an Grenzen stoßen. Allmählich wird es Rohrwachers Film.

Die große Herausforderung besteht fortan für Brizé und seine Darsteller darin, das richtige Timbre zu finden. Das verlangt Präzisionsarbeit – jenes wachsame Herantasten, das nicht ohne Zögern gelingen kann. Zuerst funkt es nicht einmal zwischen diesen großartigen Schauspielern. Das ist genau richtig. Die Gefühle entfalten sich im Wartestand, im abwägenden Zweifel. Brizés Film erzählt verschwiegen von den Emotionen, die aufgewühlt werden. Er scheint oft inmitten der Dialoge zu verstummen. Die ungewöhnlich instrumentierte, getragene Partitur von Vincent Delerm spielt dem zu. Die Kamera von Antoine Héberlé bewegt sich ganz sacht, manchmal nur wenige Zentimeter.

Brizé nimmt sich unerhört viel Zeit. Sein Blick verharrt noch auf den Figuren, nachdem die Szene vorüber und ihre Aura fast erloschen ist. Die Montage wirkt zuweilen ratlos, flicht Selfies und Textnachrichten ein, damit der Zeitfluss sich nicht zu sehr verdickt. Aber die temps morts sind nicht vergeudet. Sie nähern uns immer weiter den Figuren an, denen es im entscheidenden Moment an Mut fehlte. Brizé mag sich nicht von ihnen lösen. Geduldig legt er frei, was in ihnen verschüttet ist, was Alice in ihrem Leben begraben hat. Als der Abschied naht, spielt sie Mathieu eine kleine Melodie vor, die sie komponiert hat. Uns wird sie vorenthalten, nur er hört sie auf dem Kopfhörer. Er findet sie großartig. Endlich trifft er den richtigen Ton.

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