Stumm war das Kino nie
Auf einer Sitzung des Stadtrates wäre mit diesem Bekenntnis kaum Staat zu machen. Auch das Stadtmarketing hätte da wohl eher abgeraten. Die Aufgabe einer Bürgermeisterin ist es schließlich, Versprechen auf eine goldene Zukunft auszugeben und nicht, sich der Pflege des Rückständigen zu rühmen.
Aber in der Kulturpolitik kommt es eben nicht nur darauf an, was man sagt, sondern auch, in welchem Rahmen man dies tut. Am Eröffnungsabend des diesjährigen "Film+Musik Fest" jedenfalls konnte sich Karin Schrader breiter Zustimmung gewiss sein, als sie verkündete, Bielefeld sei auf dem besten Wege, zur Stummfilm-Metropole zu werden. Dieses Fest findet bereits zum 27. Mal statt, läuft noch bis zum 6. November und darf den Vergleich zu hochmögenden Veranstaltungen in Bonn, München oder Zürich suchen. In jedem Herbst kommen hier Klassiker und Trouvaillen mit Live-Begleitung zur Aufführung; überwiegend als musikalische Weltpremieren. Was unsereins als heroischer Akt cinéphiler Beharrlichkeit erscheint, liest sich auch in kulturpolitischer Diktion als Erfolgsgeschichte: Eine kleine, bürgerschaftliche Initiative hat sich zu einem Leuchtturmprojekt entwickelt. Nicht auszuschließen, dass mittlerweile auch Stadtrat und -marketing von dessen Strahlkraft überzeugt sind.
Veranstaltet wird das Fest von einer rührigen Gesellschaft, die sich nach dem berühmtesten Kino-Sohn der Stadt benannt hat, Friedrich Wilhelm Murnau. Jeder Jahrgang steht unter einem Motto (diesmal: Männerfallen), dessen Verbindlichkeit für die Filmauswahl sich selten auf Anhieb erschließt. Oft wartet das Programm mit taufrischen Mitbringseln aus Bologna und Pordenone auf. Ich wurde leider erst vor einem Jahrzehnt darauf aufmerksam, nachdem ein alter Schulfreund schwärmte, wie beeindruckend die Aufführungen von Howard Hawks' »Fig Leaves« und Raoul Walsh' »Der Dieb von Bagdad« waren. Seither versuche ich, Besuche in meiner ostwestfälischen Heimat immer so zu legen, dass ich wenigstens einen Film sehen kann. In meinem ersten Jahren lernte ich beispielsweise »A Cottage in Dartmoor« von Anthony Asquith und »Tol'able David« von Henry King kennen. 2015 sahen wir Murnaus »City Girl« mit einem Score von Bernd Wilden, der uns weit besser gefiel als die Begleitung der Criterion-DVD. In diesem Jahr läuft erstmals keine Arbeit von Murnau. Er wird stattdessen in München gebraucht, für eine offenbar aufschlussreiche Ausstellung im Lenbach-Haus (mit Videoinstallationen von Ulrike Ottinger, Guy Maddin und anderen), die flankiert wird von einer Retrospektive im dortigen Filmmuseum. Seinen Schatten wirft er dennoch über diesen Bielefelder Jahrgang. Doch davon später mehr.
Inzwischen hat sich das Fest zu einer gewissermaßen stadtragenden Veranstaltung gemausert. Die Rede eines Bürgermeisters habe ich zuvor jedenfalls noch nicht gehört. Dieser Zuwachs an Bedeutung ist nicht nur von Vorteil. Das Festival hat zwei Aufführungsmodi: mit einer kleinen Besetzung in einem örtlichen Kino und mit großem Orchester in der Rudolf-Oetker-Halle. Im ersten Modus kann man Risiken eingehen, die große Stadthalle jedoch will gefüllt sein. Die Neugier auf Entlegenes scheint zu schwinden, in diesem Jahr nimmt der vertraute Kanon überhand. Braucht die Welt wirklich noch eine weitere Vorführung von Walter Ruttmans »Berlin-Sinfonie einer Großstadt«?
Zu Beginn triumphierte allerdings die Entdeckerfreude. Die frisch restaurierte Kopie von Victor Flemings »Mantrap« war ein prächtiger Auftakt. Der Film stellt Sinclair Lewis' sauertöpfische Romanvorlage nonchalant vom Kopf auf die Beine: Das Publikum bekam zwei Screwball comedies zum Preis von einer - obwohl 1926 dieses Sub-Genre noch nicht einmal erfunden war. Die beiden Männer, die hier die treffliche Clara Bow umschwirren, sind von denkbar ungewissem romantischem Potenzial: ein den Frauen zynisch überdrüssiger Scheidungsanwalt und ein letztlich dann doch tückisch treuherziger Hinterwäldler. Bow, deren munterem Sex-Appeal ich erstmals in »Wings« erlag, agiert als eine urbane Naturgewalt. Ein launiges Schicksal verschlägt die lebenslustige Maniküre aus Minneapolis in die Wildnis an der kanadischen Grenze. Allzu viele Männer gibt es dort nicht, denen sie den Kopf verdrehen könnte. Aber sie gibt ihr Bestes. Warum sollte ihre städtisch-moderne Unternehmungslust nicht auch im Hinterland heimisch werden? Bow wurde in der Rolle des zuvorkommenden Vamp endgültig zum Star und Flemings Regie begibt sich klug ins Schlepptau ihres unbekümmert sprudelnden Temperaments. »Mantrap« prunkt mit kecken Zwischentiteln, flotten Ellipsen und den tollkühnen Kameratricks des jungen James Wong Howe.
Axel Goldbecks Jazz-Partitur, gespielt vom "Cinematografischen Orchester", ist erstaunlich. Sie transportiert den Film nicht in die Gegenwart, sondern verortet ihn zwischen Bigband-Sound und Lounge, vollzieht die populäre Entwicklung des Idioms ohne die Komplikationen des Bebop nach. Sie besinnt sich darauf, was im Jazz Age Tanzmusik war. Das passt gut zu Bows saftigem Körperspiel. Goldbeck legt die Musik großflächig über die Szenen, reagiert erst in der zweiten Hälfte pointiert auf die Dramaturgie der Szenen. Hoffentlich macht der Film mit dieser Begleitung die Runde durch andere Stummfilmfestivals in unseren Breitengraden.
Eine weitere Entdeckung im Programm ist »Steet Angel« von Frank Borzage, der Murnaus enormer Einfluss auf das späte Stummfilmkino Hollywoods demonstriert. Er läuft morgen Abend und wird von meinem Kollegen Daniel Kothenschulte, einem glühenden Verehrer Borzages, am Klavier begleitet. Dieses Melo aus der glorreichen Abenddämmerung der Stummfilmära kenne ich nur mit der Originalmusik von Ernö Rapee, die ziemlich monoton auf "O Sole mio" rekurriert. In die Falle wird Daniel hoffentlich nicht tappen. Ganz ohne folkloristische Italianatà geht es bei diesem Stoff allerdings nicht, den Borzage in ein pittoreskes Studio-Neapel verlegt hat. Zugleicht schwelgt er in Panoramen der Bucht, die überzeugend von der im kalifornischen Santa Catalina gedoubelt wird. Borzage ist ein unbestechlicher, anarchischer Romantiker, für den die Liebe eine erhabene Verschwörung gegen den Rest der Gesellschaft ist.
Damals, Ende der 1920er, machte Murnaus »Sunrise« mächtig Eindruck auf die anderen Regisseure, die bei der Fox arbeiteten, namentlich John Ford und Howard Hawks. Aber Borzage war sein gelehrigster, eigensinnigster Bewunderer. Er ließ ein kreisförmiges Szenebild entwerfen, auf dem sich sein Kamerakran mit ungeheurer Agilität bewegte. Sein Neapel ist ein Labyrinth der verschlungenen Stiegen und Treppen, das großartige Aufsichten und Diagonalen zeitigt. Aber nicht nur von den berühmten Szenebildern des Weimarer Kinos ließ sich Borzage inspirieren. Seinen Kameramann Ernest Palmer hielt er an, ganze Szenen als Schattenspiel anzulegen. Die Kadrage stellt eine sublime Spannung her zwischen den Liebenden, ein tragisches Missverstehen, das erst durch den Rückgriff auf die Malerei aufgelöst wird. Ein Kabinettstück der atmosphärischen Überreife, mit dem sich das stumme Kino noch einmal gegen den unwiderruflichen Siegeszug des Tonfilms aufbäumte. Buona fortuna für diese Herausforderung, Daniel!
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