Kritik zu Shahid
Eine Iranerin in Deutschland versucht, ihren zweiten Nachnamen »Shahid« loszuwerden, der übersetzt Märtyrer bedeutet. In einer Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm verarbeitet die Regisseurin Narges Kalhors eigene Erfahrungen
Die Geister der Vergangenheit sind in »Shahid«, Narges Kalhors Mash-up aus Dokumentar- und Spielfilm, Musical und Theater, ein ziemlich hartnäckiger Haufen – buchstäblich. Angeführt vom Wiedergänger ihres Urgroßvaters (Nima Nazarinia), tänzeln Männer in schwarzen Trachten der Film-Narges (Baharak Abdolifard) hinterher, sobald sie die Haustür verlässt. Draußen bewegt sich die Welt rückwärts, wenn Narges durch die Straßen läuft, auf dem Fahrrad fährt oder zwischendurch von den »vielen Schichten der Geschichte« singt.
»Menschen wie du mögen ihre Vergangenheit nicht«, stellt der fegende Müllmann prophetisch fest. Narges Shahid Kalhor, wie die Regisseurin mit vollem Namen heißt, versucht, sich ihrer Vergangenheit durch eine Namensänderung zu entledigen. Sie möchte nicht mehr »Shahid« heißen, übersetzt so viel wie Märtyrer – auch, weil das der Nachname ist, der sich in Deutschland wegen einer einfacheren Aussprache durchgesetzt hat. Zu »verdanken« hat sie den Namen ihrem Urgroßvater Mirza Gholam Hossein, der vor hundert Jahren während der Konstitutionellen Revolution im Iran einen heldenhaften Märtyrertod starb und den Ehrennamen an seine Familie vererbte.
In »Shahid« lässt Kalhor die Geschichte des Urgroßvaters von dem iranischen Künstler Saleh Rozati, begleitet von improvisiert-jazzigem Liveschlagzeug, vor einem riesigen historischen Wimmelbild erzählen. Neben diesen theaterhaften Szenen folgt der Film der Film-Narges bei ihren Bemühungen, den Namen loszuwerden.
Im bayerischen Kreisverwaltungsreferat reicht die Iranerin eine absurde Menge an Bescheinigungen, Urkunden, Zeugnissen und Schreiben ein, um dann gesagt zu bekommen, dass aber das psychologische Gutachten über den Änderungswunsch des Namens fehle. Also geht es zum Psychologen, dem die echte Narges hinter der Kamera sagt, man wolle authentisch sein. Ribbentrop heißt der Arzt im Film, und Film-Narges fragt ihn einmal, ob er auch traumatisiert sei von den Grausamkeiten seines Namensvetters Joachim von Ribbentrop, Reichsminister des Auswärtigen in der NS-Zeit. Hier hat alles einen pointierten doppelten Boden.
Mit Wagemut und sperriger Leichtigkeit verhandelt die 1984 in Teheran geborene Regisseurin in ihrem tragikomischen Hybrid die Themen Zugehörigkeit, (kulturelle) Identität und Integration. Zugleich ist ihr Film ein politisch-feministischer Kommentar gegen ideologische Radikalisierung jeglicher Art. Kalhor schwört nicht nur ihrer eigenen Geschichte ab, sondern auch der Kirche und dem Patriarchat. »Diese Männer und ihre Geschichten sind mir scheißegal!«, erklärt sie einmal dem Psychiater, um am Ende festzustellen, dass sie vielleicht einen völlig falschen Film gemacht hat. Ist wirklich ihr Urgroßvater an allem schuld?
Nicht zuletzt ist »Shahid« ein Film über das Filmemachen, wenn die Schauspieler aus ihren Rollen schlüpfen, Szenen besprochen werden oder das Filmteam mit der Drohnenaufnahme in einer Wohnung kämpft. »Shahid« passt nicht nur in keine Schublade hinein, der experimentell in alle Richtungen flirrende Film zimmert sich gleich eine ganz eigene.
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