Kritik zu Der Zeuge
In seinem vierten Film als Regisseur stellt der Schauspieler Bernd Michael Lade einen Prozess der Nachkriegszeit gegen NS-Täter nach
Im Jahr 1946 begann in den Räumlichkeiten des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau einer der Prozesse der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen NS-Täter aus dem KZ Flossenbürg. Es gibt Fotos von diesem Prozess mit seinem improvisierten Gerichtssaal, an dessen Wand eine amerikanische Fahne hängt – Bayern war damals amerikanisch besetzte Zone.
Auf einem dieser Fotos ist Carl Schrade zu sehen, wie er stehend seine Aussage macht. Ihm gegenüber sitzen die Angeklagten, mit umgehängten Nummerntafeln. 1934 hatten die Nazis Schrade, einen halbseidenen Schweizer Geschäftsmann, der wohl teilweise illegal mit Industriediamanten handelte, in Berlin verhaftet; elf Jahre verbrachte der Mann in den Lagern Lichtenburg, Esterwegen, Sachsenhausen, Buchenwald und Flossenbürg als sogenannter Berufsverbrecher. »Elf Jahre« heißt auch Schrades Erinnerungsbericht, der 2011 auf Französisch erschien, drei Jahre später auf Deutsch.
Der Schauspieler und Regisseur Bernd Michael Lade (bekannt geworden als Dresdner »Tatort«-Kommissar) hat sich, unter Zuhilfenahme von Schrades Bericht und den Gerichtsprotokollen, der grausamen Odyssee dieses Mannes angenommen und seine Aussage vor Gericht nachgestellt. Lade selbst spielt Schrade, und ihm gegenüber sitzen die SS-Schergen mit umgehängten Nummern, inklusive Ilse Koch, der Ehefrau des berüchtigten Kommandanten von Buchenwald, Karl Koch.
Das ist natürlich historisch nicht korrekt, aber das muss es auch nicht sein. »Der Zeuge« ist kein Reenactment, sondern erinnert eher an die Fernsehdokumentarspiele der sechziger Jahre, ein Film der Reduktion, der auf alles Drumherum verzichtet und sich auf die Aussagen Schrades konzentriert. Ohne größere emotionale Beteiligung berichtet Schrade auf Englisch von den unmenschlichen Bedingungen und dem Sadismus der SS-Männer. Die Verwendung von Sprache ist ein Kunstgriff in diesem Film: Seine Aussagen werden ins Deutsche übersetzt, und die Aussagen der SS-Männer, in Schwarz-Weiß aufgenommen, durch die Gerichtsreporterin (Maria Simon) ins Englische. Das lässt die Grausamkeit der geschilderten Taten doppelt wirken. Und Lade konfrontiert Schrades Aussagen (ohne einen etwaigen Prozessverlauf abzubilden) mit den Statements der Täter und ihrem Versuch, sich von Schuld reinzuwaschen – Karl Koch war an allem schuld. Das Gericht selbst wie auch der Anklagevertreter kommen nicht zu Wort in diesem Film, der auf Prozessdetails verzichtet.
Lade spielt Schrade (der in Flossenbürg selbst Kapo war, also, wenn man so will, ein Mittäter) nicht mitleidheischend, und er hat beeindruckende Schauspieler für die Verkörperung der Täter gefunden, deren Gesichter er meist in Großaufnahme zeigt. »Der Zeuge« zeigt in konzentrierter, fast abstrahierter Form ein paradigmatisches Schicksal, an das zu erinnern auch ein Dreivierteljahrhundert später immer noch wichtig ist. Mord verjährt bekanntlich nicht. Carl Schrades Entschädigungsantrag übrigens, das kommt im Film nicht vor (und ist auch nicht das Thema), lehnten die Behörden der Bundesrepublik 1958 ab. Ihnen galt er, auch nach elf Jahren in der Hölle, wohl immer noch als »Berufsverbrecher«.
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