Stilles London
Von dieser Kolumne wollte ich eigentlich schon seit längerer Zeit berichten. Vor gut einem Jahr habe ich sie entdeckt. Es fing damit an, dass Pamela Hutchinson, eine mir bis dahin unbekannte Journalistin beim »Guardian«, an das Kinojahr 1915 erinnerte. Sie erklärt es zu einer entscheidenden Wegmarke der Filmgeschichte – ihrer Ansicht nach wurde das Medium in diesem Jahr erwachsen – und verlinkte zu einigen Filmen, die als Beleg dafür dienten.
Besonders hoch rechnete ich ihr an, dass sie nicht nur auf halbwegs bekannte Filme von Cecil B. DeMille, Chaplin und Raoul Walsh verwies, sondern auch auf die Regiepionierin Lois Weber und auf Yevgeni Bauer (ich folge hier mal der englischen Schreibweise des Namens, da seine Filme fast nur in britischen DVD-Editionen erhältlich sind), den großen Melodramatiker des zaristischen Kinos. Fortan freute ich mich alle zwei Wochen auf eine neue Lieferung. Ihre Kolumne »Silent but deadly!« war praktisch ausschließlich dem Stummfilmkino gewidmet und ich fand es großartig, dass eine Tageszeitung wie der »Guardian« diesem zugegebenermaßen esoterischen Themenfeld so viel Platz einräumte. In seinem Filmteil leistet der sich ohnehin einigen Luxus, im materiellen wie im ideellen Sinne. Ich denke nur daran, dass zu großen Festivals wie Cannes in Spitzenzeiten zuweilen über Hundert Artikel auf seiner Webseite erschienen. Diese Zeiten sind vorüber. Unlängst wurde bekannt, dass der Verlag im letzten Jahr wieder einmal Verluste in astronomischer Höhe verbuchen musste. Da nimmt es nicht wunder, dass mein heutiger Eintrag ein Nachruf geworden ist. Totgesagte leben eben doch nicht länger. Im Netz sind alle Folgen der Serie abrufbar.
Anfang August erschien Pamelas letzter Beitrag, der sich mit Billy Wilders »Sunset Boulevard« beschäftigt. Ein triftiger Abschied. Der Text weist noch einmal mustergültig die Tugenden der Kolumne auf: Pamelas Gabe, historische Zusammenhänge und Karrieren (in diesem Fall die von Gloria Swanson) bündig zu skizzieren und die Lebendigkeit, mit dem sie den Lesern entlegene Themen nahe bringt. Ich finde sie eine aufgeweckte Vermittlerin, die in jedem Fall Neugierde und im besten sogar Begeisterung weckt. An ihrer Lesart von »Sunset Boulevard« gefällt mir, wie sie die Stummfilmära als das Fundament darstellt, auf dem die Hollywoodstudios zur Zeit von Wilders Film noch immer ruhten: Paramount hatte Swanson womöglich mehr zu verdanken als umgekehrt. Die Kolumne schließt mit dem ein wenig trotzig klingenden Diktum, der Stummfilm sei nie eine obsolete Kunst gewesen.
Ich wollte die genauen Gründe für die Einstellung der Serie wissen und schrieb Pamela eine Mail – obwohl ich vermutete, dass sie wahrscheinlich gar nicht offen darüber sprechen dürfe. Sie reagierte rasch, blieb in ihren Antworten aber etwas vage; wohl aus vertragsrechtlichen Gründen. Meine Annahme, die Kolumne sei schlicht einem Sparkurs zum Opfer gefallen, mochte sie nicht eindeutig bestätigen. Ihr Ende verdankt sich anscheinend auch nicht unbedingt dem mangelnden Interesse der Leser bzw. User. Die Serie werde sie wahrscheinlich auf ihrer eigenen Seite fortsetzen, die ich inzwischen auch kennen und schätzen gelernt hatte.
Pamela hat »Silent London« 2010 ins Leben gerufen. Zunächst veröffentlichte sie dort hauptsächlich Programmankündigungen (erstaunlich, was in Sachen Stummfilm in London so alles passiert), betrieb dann aber einen immer größeren Aufwand. Es gibt ausführliche DVD-Kritiken, Festivalberichte, Podcasts sowie kuriose statistische Fundstücke zum Stummfilmkino. Pamela verlinkt auch ihre sonstigen Aktivitäten. Zuletzt hat sie im »Guardian« über das Phänomen dialogarmer Kinohelden geschrieben (Sagt Jason Bourne wirklich nur 45 Sätze in seinem neuesten Abenteuer? Und wer hat die Muße, so etwas nachzurechnen?); im September erscheint in »Sight and Sound« ein Artikel über Ingrid Bergmans frühe Karriere in Schweden und Deutschland. Alles in allem ist »Silent London« ein prächtiges Schatzkästchen für Aficionados und solche, die es werden wollen.
Ihre Antwort auf meine Frage, weshalb ihre Kolumne »Silent but deadly!« heißt, war so vergnüglich wie rätselhaft. Ich gebe sie einmal im Original wieder, da Ihre Phantasie eventuell ja lebhafter ist als meine: »I did not choose the name myself, and I am not very fond of it. The film editor chose the name. It is a very childish joke. A phrase schoolboys use to describe something indelicate. Can you guess? Perhaps you don't want to.«
Als PS fügte sie hinzu, dass ihr nächstes Projekt deutsche Leser interessieren könnte: Sie schreibt eine Monographie über G.W. Pabsts »Die Büchse der Pandora«, die demnächst in der Reihe »BFI Classics« erscheinen soll, die das Britische Filminstitut herausgibt. Eine entscheidende Frage zu stellen, vergaß ich völlig: Woher ihre Liebe zum Stummfilmkino eigentlich stammt? Das ist natürlich der Frage würdig, aber ganz und gar nicht fragwürdig.
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