London, einst und demnächst

Anthony Asquith (Mitte) bei den Dreharbeiten zu »Channel Incident« (1940) mit Peggy Ashcroft und Gordon Harker

Eine der verführerischsten Torheiten, die je über das Kino verbreitet wurden, ist Francois Truffauts Behauptung, die Begriffe Kino und England seien eigentlich unvereinbar. Im Gespräch mit Alfred Hitchcock unterstellte er dem englischen Nationalcharakter eine gewisse Filmfeindlichkeit. Er sei zu reserviert und kleinbürgerlich; selbst Landschaft und Klima schienen dem Franzosen jedweder filmischen Inspiration im Wege zu stehen.

Diese demonstrative Geringschätzung diente ihm vor allem als Manöver, um sein Idol Hitchcock als den einzigen wahren Filmemacher feiern zu können, den die Insel hervorgebracht hat. Die Bewunderung der Kritiker funktioniert eben oft nach dem Ausschlussverfahren. Aber die Filmgeschichte ist natürlich großzügiger. Dem Ansehen von David Lean, Powell & Pressburger, Carol Reed, Mike Leigh und Ken Loach hat Truffauts Schmähung letztlich wenig geschadet. Aber sie hat womöglich dazu geführt, dass Hitchcocks Ruhm den seines größten Rivalen im britischen Stummfilmkino lange überschattete: Anthony Asquith. In Deutschland ist praktisch nur noch sein fades Spätwerk aus den 60ern bekannt, etwa »Die Millionärin«, »Hotel International« und »Der gelbe Rolls Royce«, deren internationales Staraufgebot ihnen nach wie vor eine Präsenz in öffentlich-rechtlichen Nachtprogrammen sichert. Weit interessanter sind seine Verfilmungen der Stücke von Terence Rattigan, die auf den ersten Blick ganz den Werten des West-End-Theaters verpflichtet sind – erlesene Darsteller in einem fesselnden Drama -, aber beharrlich an der Selbstgewissheit von Autoritäten rütteln und überdies einen bemerkenswerten schwulen Subtext aufweisen. Wirklich großartig jedoch sind die Arbeiten, mit denen er seine Karriere in der Abenddämmerung des Stummfilms begann. Kein Stern ging damals mit solcher Strahlkraft auf wie der seine!

Mit gleich drei Filmen bildete er einen Schwerpunkt der Reihe über das stumme London, die im Rahmen von »Toute la mémoire du monde« lief. Asquith' Frühwerk wird seit ein paar Jahren sukzessive wiederentdeckt, seit »Underground« (»Der Schrei aus dem Tunnel«) und »A Cottage in Dartmoor« auf dem Stummfilmfestival in Pordenone liefen - und ihren Weg sogar bis in die westfälische Provinz machten, zum Film+Musik-Fest in Bielefeld. (Sie liegen, um wiederum in die von Alex Horwath beschworene Falle zu tappen, in exzellenten DVD-Editionen des British Film Institute vor.)

»Underground« ist ein Glanzstück filmischer Urbanität, das sich ungemein facettenreich den öffentlichen Nahverkehr als Spielfeld kriminalistischer und romantischer Verstrickungen erschließt. Erst nach einer halben Stunde verlässt Asquith seinen hauptsächlichen Schauplatz, die Tube, deren lebhafte Geschäftigkeit und drangvolle Enge er mit bezwingender Verve in Szene setzt. Ferner liefen »The Runaway Princess« und »Shooting Stars«, der für mich zu den schönsten Entdeckungen des gesamten Festivals gehörte. Der Eindruck, den Asquith' Filme beim Publikum in der Fondation Seydoux-Pathé hinterließen, war so stark, dass er Hitchcocks »Blackmail« überschattete. Der sei doch nur noch von historischem und kaum mehr von künstlerischem Interesse, hörte ich einen Filmbegeisterten sagen. Das geht nun wirklich zu weit, zeigt aber, wie sich Verdrängungsprozesse auch ins Gegenteil wenden können. Aus Bryony Dixons Programmtext ist übrigens zu erfahren, dass der junge Michael Powell, damals Standfotograf im Studio, Hitchcock entscheidende Anregungen für den Schluss lieferte, die Verfolgungsjagd durch das Britische Museum.

Gleich in seinem Regiedebüt »Shooting Stars« reflektiert Asquith fulminant sein eigenes Medium: Er erzählt, voller dramatischer und ironischer Volten, eine Dreiecksgeschichte im Filmmilieu. Seine drei Protagonisten werden ständig mit ihrem öffentlichen Image konfrontiert, ein Filmstar applaudiert sogar sich selbst während eines unerkannten Kinobesuchs (auch in »Underground« gibt es einen selbstreflexiven Zug: den Besuch eines Tonfilms). Asquith treibt ein kluges Spiel mit Realität und Filmwirklichkeit (und das fünf Jahrzehnte vor Truffauts »Die amerikanische Nacht«!), bindet raffiniert die Zweideutigkeit von Requisiten (ein verstohlen zirkulierender Schlüssel, ein Lippenstift wird mit einer Patrone verwechselt) darin ein. Der Akt des Schauens wird zusehends trügerisch im behänden Wechsel der Perspektiven. Asquith persifliert nicht nur den Starruhm, sondern zeigt dessen Flüchtigkeit in tragischer Konsequenz. Der Epilog, in dem die einst gefeierte Heldin nun ein Dasein als Statistin fristen muss, ist furios. Da fühlte ich mich wiederum an das Gespräch von Hitchcock und Truffaut erinnert. Darin berichtet Hitch von zwei seiner früheren Mentoren im Filmgeschäft, denen er Jahre später wieder begegnete, als sie zu Hilfsfarbeitern degradiert waren.

»The Runaway Princess« kann nicht ganz so viel von jener Modernität für sich reklamieren, die mein Freund Bruno »Shooting Stars« attestierte. Zwar ahnt die Geschichte in einigen Zügen »Ein Herz und eine Krone« voraus, aber ansonsten weist die muntere Komödie nicht wirklich in die Zukunft. Muss sie auch nicht, denn die Straßenszenen – es gibt einige Verfolgungsjagden und Beschattungen - fangen das zeitgenössische Flair Londons ganz fabelhaft ein. Die Stadt schlägt sich ohnehin im gesamten Programm wacker gegen die Konkurrenz von Paris als filmischer Metropole. Sie lebt von der sozialen Spannung zwischen East- und West-End, dem Gegeneinander von Tradition und Moderne und noch vom Glanz des Empire. Verkaufen lässt sie sich, um erneut Hitchcock zu zitieren, mit den Leuchtreklamen vom Piccadilly Circus, die den Schauplatz noch markanter identifizieren als Big Ben und die Tower Bridge. Diesen Wiedererkennungseffekt hat später die Edgar-Wallace-Serie abgekupfert.

Diese Urbanität ist filmisch inspirierend: Die Vorspanntitel zu E.A. Duponts »Picadilly« sind auf den Reklametafeln vorbeifahrender Busse zu lesen. Sogar als Schauplatz für einen einfallsreichen Science-Fiction-Film taugt die Stadt: In »High Treason« von Maurice Elvey, von dem es auch eine Tonfilmversion gibt, ist London die Hauptstadt der Vereinigten Statten von Europa, die von ruchlosen Agitatoren in einen Krieg mit den Vereinigten Staaten des Atlantik verwickelt werden sollen. Eine Friedensliga, an deren Spitze ein wehrhaftes Vater-Tochter-Gespann steht, will diese heimtückischen Pläne vereiteln. Elveys Zukunftsvision sind von putziger, zuweilen erhabener Naivität. Das Drehbuch prognostiziert für das Jahr 1950 die Gleichstellung der Geschlechter und ahnt ganz selbstverständlich Fernsehen, Skype und den Eurotunnel voraus. Ob das in einem Paris-Film so gut funktionieren würde? Gleichviel, die Reihe führte vergnüglich vor, dass es in den letzten Stummfilmtagen kein so tristes oder gar schändliches Schicksal gewesen sein muss, in England Filme zu machen.

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Kommentare

In einem ist die "Grande Nation" tatsächlich groß: Arroganz.

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