Kritik zu In ihrem Haus
Im neuen Film von Ozon entdeckt ein Lehrer unter seinen Schülern ein Schreibtalent – und will ihn fördern um jeden Preis. Eine dramatische Komödie über Erzählkunst als Eindringen ins Leben der anderen
Er ist ein bisschen zarter als die anderen. Überlange Glieder, schmale Schultern, und ein Brustkorb – spillerig wie ein Küchensieb. Claude (Ernst Umhauer) ist 16, gut in Mathe und sitzt am liebsten hinten. Von dort aus späht er nach seinen unfreiwilligen Mittätern. Und es ist nur ein minimales, dunkles Funkeln in seinen babyblauen Augen, das anzeigt, wenn ihm wieder eine Idee gekommen ist, mit der er Rapha (Bastien Ughetto), einen ungesund gutmütigen Klassenkameraden, zum Spielball seiner Fantasie werden lassen kann.
Claude ist ein wahres Wunderkind der Suggestion. Jedes seiner Worte, mit denen er einen simplen Schulaufsatz zu einem sarkastischen Roman über die Mittelklasse im Allgemeinen und Raphas Familie im Konkreten aufbläht, wirkt wie ein süßes Gift im Auge des Lehrers Germain (Fabrice Luchini), der nur allzu bereitwillig dem einzigen Schreibtalent unter seinen Schülern bald seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Von Hausaufgabe zu Hausaufgabe beschreibt Claude, wie er sich buchstäblich in die Familie seines Schulkameraden – eben »in ihrem Haus« – implantiert, dem Sohn Rapha Mathe-Nachhilfe, der Mutter schmachtende Blicke und dem Vater Kumpanei zuteil werden lässt. Wie er diese Keimzelle in all ihrer naheliegenden Durchschnittlichkeit vorführt, lässt ihn als virtuosen Manipulator erscheinen, dessen Motive aber irritierend unklar bleiben. Treibt ihn die reine Schaffensfreude an oder ist es doch eher die Schadenfreude? Claude kommt aus dem Nichts, das ist sein größter Reiz. Germain, den der Voyeurismus, der Allmachtswahn und die Niedertracht seines Schülers in der Fiktion mit der ersten Zeile buchstäblich angefixt hat, wird zur Komplizenschaft verführt.
Für Regisseur François Ozon, der sich mit Claude eine Reflektorfigur für die dunklen Seiten der eigenen Erfindungsgabe installiert, ist der Junge alles zugleich. Das Beobachten, das Beeinflussen, das Begehren. Das Kino, die Verführung und die Imagination. Und je mehr sich Claudes Roman auch im Kitsch von pubertärem Verlangen und wahnwitzigen Selbstüberhöhungen verzettelt, desto stärker setzt sich auch der Regisseur als Illusionist selbst der Ironie aus.
In ihrem Haus ist erzählerisch eine ziemlich durchtriebene Angelegenheit. Mal an der Oberfläche harmlos und nett, dann plötzlich grotesk oder böse. Als orgele der Meister in einer Fingerübung alle Stimmungsregister einmal durch. Auf den ersten Blick kommt der Film als typisch bürgerlich-französische Komödie daher, wenn sich der schusselige Lehrer abends im Bett neben seiner attraktiven Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas), einer Galeristin, die gerade mit Sexpuppenkunst um ihre berufliche Existenz kämpft, in der Fortsetzungsgeschichte seines Pennälers verliert. Seine Cordhose, ihre zickige rote Brille, die braunen Stofftapeten um sie beide herum – Set, Personnage, Kostüm, alles passt. Daneben gibt es Querverbindungen von Fassbinder über Hitchcock bis zu Pasolinis Teorema, der unverkennbar die ebenso morbide wie utopische Mission von Claude unterfüttert. Oder, unvermeidlich, zu »Madame Bovary« von Flaubert, der nicht nur Claudes Schule seinen Namen leiht und auf jedem zweiten Tafelbild erscheint, sondern auch Raphas Mutter (Emmanuelle Seigner) den Schleier der Depression über ihr müdes Alltagsgesicht legt.
Ob Sitcom, eine Parodie auf französische TV-Serien, Les amants criminels, ein Gangstermärchen in Bonnie and Clyde-Manier, Swimmingpool nach dem Psychothriller »La Piscine« von Jacques Deray oder 8 Frauen nach George Cukors wundervollem Verschwörungskosmos Die Frauen: François Ozon ist der große Eklektizist des gegenwärtigen französischen Kinos. Der virtuose Übermaler bereits vorhandener Genreerzählungen, der nichts so liebt wie die Variationen und immer neuen Spiegelungen auf bewährten Oberflächen. Mit In ihrem Haus erzählt er einmal mehr, was ihn an der Fantasie interessiert: nicht ihre Qualität oder Tiefe, sondern der Sog ihrer Realitätsflucht.
Am Ende sitzt Germain verwahrlost und fiktionssüchtig auf einer Bank mit Blick auf die hell erleuchteten Zimmer eines Wohnblocks. Claude setzt sich zu ihn, und zusammen starrt man auf das Leben der anderen. Im eigenen sind beide nur Statisten geblieben.
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