Sie wird der Spiegel sein
Die Freundin, die so leidenschaftlich für die Ausstellung warb, hatte recht: Nan Goldins Fotos leuchten. Gewiss, die Freundin war voreingenommen – sie arbeitet in der Akademie der Künste, wo die Schau zu sehen ist. Aber so begeistert hatte sie bislang noch über keine andere in ihrem Haus gesprochen.
Dieses Leuchten verdankt sich natürlich auch dem Licht und den Farben, die man nicht unbedingt von einander trennen kann in Goldins Bildern. Aber es ist vor allen Dingen emotional aufgeladen. Es ist ein persönliches Leuchten, das aus der Beziehung der Fotografin zu ihren Figuren entsteht. Die Bilder sind aus deren Leben gegriffen, weshalb ich sie auch nicht als Modelle bezeichnen möchte. Goldins Fotografie ist unmittelbare Zeugenschaft. Die Lebenswelten, die sie zeigt, muss sie nicht erkunden; sie gehört ihnen an. Sie sind ihr Zuhause. Das fing ganz früh an, in den Nachtclubs von Boston, wo sie Freundschaft schloss mit den dort auftretenden Drag Queens und ihrem Publikum. Dieses Zuhause fand sie seitdem auf mehreren Kontinenten wieder, in Amerika, Europa, Asien. Fünf Jahrzehnte umspannt die kleine Werkschau, die im Hanseatenweg noch bis zum 19. März läuft.
Am vergangenen Freitag wurde die Amerikanerin dort mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet, dessen Namensgeberin auch ein Mandat gesellschaftlicher Wirksamkeit von Kunst impliziert. Ich hatte gehofft, Goldin wäre noch bis zum Sonntag gelieben, als Laura Poitras' dokumentarisches Porträt »All the Beauty and the Blodshed« gezeigt wurde. Darin tritt sie zunächst als politische Aktivistin auf, als Mitgründerin von PAIN (Prescription Addiction Intervention Now), die in den Museen der Welt dagegen protestiert, dass die Milliardärsfamilie Sackler als Mäzen des "Blutgeld" reinwäscht, das mit dem abhängig machenden Medikament Oxycontin verdient hat. Poitras kommt auf diese Erzählungsebene regelmäßig zurück, lässt die Fotografin aber weitgehend in Bildern und Worten auf ihr Leben zurückschauen. Der in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Film kommt im Mai in unsere Kinos, weshalb ich der Kritik vorgreifen will, die dann in epd Film erscheinen wird. Aber er fungiert für mich als ein trefflicher Führer durch ihr Werk. Goldins eigene Filmarbeiten (darunter »I'll be your mirror« von 1995) spielen eine erstaunlich nachrangige Rolle. In Berlin ist »All the Beauty and the Blodshed« übrigens am Freitag als Preview im Bundesplatzkino zu sehen.
Einige der Personen, die in den Bildlegenden der Ausstellung mit ihren Vornamen vorgestellt werden, erhalten im Film ihre Geschichte. Cookie Mueller beispielsweise, die bei John Waters als Darstellerin auftrat, und in der Schau als Trauernde und Betrauerte auftaucht. Poitras zeigt Goldin auch als eine Überlebende, die die AIDS- und dann die Opioid-Krise überstanden hat: eine schonungslose Chronistin von Rausch und Ekstase, von Verlust und Tod. Zwei Bilder in der Ausstellung haben mich persönlich betroffen gemacht, ein ausgelassenes und ein trauriges. Auf ihnen ist Alf Bold abgebildet, den ich als Mitarbeiter des Berliner Arsenal kennen und schätzen lernte. Goldin hat ihn zweifellos während ihres Berlin-Aufenthaltes als DAAD-Stipendiatin kennengelernt, den sie dann noch um ein paar Jahre verlängerte. Das erste Foto, eine Doppelbelichtung, zeigt Alf Bold inmitten von Freunden, das zweite auf seinem Totenbett.
Goldin ist eine Aktivistin der Sichtbarkeit. Sie gibt den Außenseitern der Gesellschaft eine bildliche Identität. Im Film erzählt sie von den Widerständen, die sich anfangs gegen ihre Kunst stellten. Das sei keine Fotografie, empörte sich das Kunstestablishment damals, niemand fotografiere sein eigenes Leben. Gerade diese Vertraulichkeit aber lässt ihre Arbeit heute zu einem so kostbaren Zeugnis werden. Sie ist Zeitgenossenschaft im Singular und Plural. Ihre Fotos betreffen Betrachterinnen und Betrachter aus einer historischen Distanz, die in direkte Nähe umschlägt. Poitras und Goldin, die auch Co-Produzentin des Films ist (sowie Co-Kuratorin der Ausstellung: Sie bestimmt maßgeblich das Bild mit, das man sich von ihr macht) spüren beharrlich den Wurzeln ihrer Kreativität nach.
Sie finden sie in dem Vorstadtmilieu, in dem sie als jüngste Tochter aufwuchs und miterleben musste, wie ihre Schwester Barabara von den Eltern immer wieder in die Psychiatrie abgeschoben wurde. Eine Welt der Verleugnung. Geht es um Schuldzuweisung? Eher um den Blick auf Opfer. Erst später erfährt Nan, dass Barbaras Rebellion keiner mentalen Erkrankung, sondern dem Wusch nach sexueller Freiheit geschuldet war. Schritt für Schritt verdichtet sich der Eindruck, sie habe als Künstlerin und Aktivistin insgeheim auch in deren Namen gewirkt.
Es sind vielfache Backstories, die Poitras' Film erzählt: zu Goldins Fotografien, zu denen auf ihnen aufleuchtenden Weggefährtinnen und Weggefährten, zu kreativen und privaten Suchbewegungen. Mich hat im Film besonders Goldins einzigartige Gabe beeindruckt, Gemeinschaften zu finden (oder, wie im Fall von PAIN, zu bilden). Ihre Kunst liegt in der Familiarität. Sie wappnet Goldin für die Kämpfe, die sie ausficht. Es steckt eine verzweifelte Ironie darin, dass das Objekt ihrer Wut, den Sacklers, eine biologische Familie ist.
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