Nach Jahr und Tag
Ich hatte eine halbe Ewigkeit nicht an sie gedacht. Beinahe hatte ich sie vergessen. So viele Ereignisse in Deutschland überschatteten, überschrieben sie später. Ihr zentraler Satz war mir fast schon nicht mehr geläufig. Ich musste erst die Nachrufe auf Richard von Weizsäcker lesen, um schlagartig erinnert zu werden an seine große Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985. Sie alle wissen es (wieder): Am 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa sprach er nicht von Niederlage oder der Stunde Null, sondern von Befreiung.
Ermessen habe ich damals die ganze Tragweite seiner Worte nicht. Auf jeden Fall waren sie ein wirksames Gegengift zu der dumpfen Verbrüderungsgeste, die der gnädig Spätgeborene Helmut Kohl und Ronald Reagan an den Soldatengräbern von Bitburg zelebrierten. Der Tod ereilte den ehemaligen Bundespräsidenten am Ende der Woche, in welcher der 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gefeiert wurde. Darin hat er eine traurige Triftigkeit. Womöglich besiegelt er ein Kapitel, was ich nicht hoffe. Obwohl Zeitungen wie der Berliner "Tagesspiegel" es nun kaum erwarten können, schon an einen weiteren Gedenktag, ein anderes 70. Jubiläum zu erinnern, das Deutschland die Opferrolle zuweist: Anfang Februar 1945 fand der heftigste Bombenangriff auf Berlin statt. Dieses Jubiläum ist mir nicht so wichtig. Das Berliner Stadtbild erinnert ständig daran. Rossellinis Deutschland im Jahre Null spielt zum Teil in den Ruinen meines Viertels, das ich seither mit anderen Augen betrachte.
Verzeihen Sie mir also, dass ich mich von dieser letzten Woche noch nicht lösen mag. So rasch müssen wir uns auch nach sieben Jahrzehnten noch nicht entlastet fühlen. Die Woche des Gedenkens war prall gefüllt. In der FAZ war beispielsweise ein Artikel Claude Lanzmanns über Shoah zu lesen, der hart an der Selbstbeweihräucherung vorbeischrammt. Der hohe Ton, in dem er seine ästhetischen Entscheidungen bei der Konzeption des Films begründet, schmeichelt der Eitelkeit seines Autors ungemein. Diese Entscheidungen hatte und haben normative Macht. Anstatt die immergleichen Archivaufnahmen zu zeigen, lässt Lanzmann die Überlebenden zu Wort kommen. Das verdient höchste Anerkennung. Unsere und spätere Generationen dürfen ihm dafür dankbar sein. Aber schmäht er damit nicht den aufklärerischen Wert der Filme beispielsweise von Marcel Ophüls? Ich hege den Verdacht, dass Shoah hier zu Lande nicht allein aus den richtigen Gründen bewundert wurde. Lanzmanns Rigorosität kam vermutlich auch einem deutschen Hang entgegen, sich vorschreiben zu lassen, was zeig- und sagbar ist. Er formulierte Maximen in der Nachfolge Adornos. Heute wissen wir natürlich, dass man auch nach Auschwitz Gedichte schreiben darf. Aber das Kino hatte es erst einmal schwer, sich das Recht wieder zu erstreiten, die Gräuel zu zeigen. Shoah wurde in der Folge ein beliebtes Totschlag-Argument gegen Schindlers Liste. Auch ich hege Vorbehalte gegen Spielbergs Film, aber keine so dogmatischen. Sein Blick für die Gesichter der Opfer hat mich damals an die humanistische Evidenz der Großaufnahmen bei John Ford erinnert.
Ist es nicht dumm, Filme immer gegeneinander ausspielen zu müssen? Besser ist es doch, ihre Koexistenz zu begrüßen. Marcel Ophüls seinerseits war erschüttert, als er Shoah gesehen hatte. Nach der Vorführung suchte er zusammen mit seiner Frau Zuflucht im Parc de Bagatelle in Paris, wo im 18. Jahrhundert einer der schönsten Rosengärten von Paris angelegt wurde. Das Ehepaar sprach über die Eindrücke, die Lanzmanns Film bei ihnen hinterlassen hatte. Es war ein schöner Frühsommertag. Doch auch in dieses Refugium großbürgerlicher und touristischer Beschaulichkeit brach die Erinnerung an das Grauen ein: Eine ältere Frau spazierte durch den Park, an deren Unterarm eine Tätowierung zu sehen war, die sie als Überlebende eines Konzentrationslagers auswies.
Würde man Lanzmanns Anspruch konsequent folgen, müsste man auch die Arbeit der britischen, amerikanischen und sowjetischen Kameraleute schmälern, die die Befreiung der Konzentrationslager filmten. In der ARD lief zu Beginn dieser Woche Night will fall, die Dokumentation über die Entstehung eines Films, den die anglo-amerikanische Abteilung für psychologische Kriegsführung unter Leitung des Produzenten Sidney Bernstein herstellen sollte. Nachrichtenwert erhielt er nicht zuletzt dadurch, dass Alfred Hitchcock an ihm beteiligt war. Er sollte die Montage des gedrehten Materials überwachen. Die Dokumentation von André Singer, der zuvor The Act of Killing produzierte, ist bemerkenswert. Auch sie lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, Kameraleute ebenso wie KZ-Überlebende. Sie sind nicht bloße Talking heads, sondern Zeitgenossen und Agenten der Überlieferung, die vor dem Hintergrund von Aufnahmen sprechen, die sie im Jahr 1945 zeigen. Den Überlebenden fällt es leichter zu sprechen als den Kameraleuten, die das Entsetzen in Bildern festhalten mussten. Sie alle ringen um Worte. Nicht nur die Gräueltaten der Nazis sind heute schwer zu ertragen. Wie zum Skelett abgemagerte Tote in Gruben geworfen werden, erzählt von dem beklemmenden Pragmatismus, der in dieser Situation wohl vonnöten war. Dass die Kameraleute beim Drehen ihre Zigaretten lässig im Mundwinkel behalten, kommt mir pietätlos vor.
Die Kameraleute der Alliierten sind weitgehend unbekannt. Die Cutter, denen das Material anvertraut wurde, sind es nicht. Unter ihnen ist Stewart McAllister, der die Filme von Humphrey Jennings geschnitten hat und Peter Tanner, der später die trotzig idyllischen Komödien der Ealing Studios montierte. Hitchcock war angeblich nach Sichtung des Materials so erschüttert, dass er sich erst einmal für eine Woche in sein Hotelzimmer flüchtete. Sodann brachte er jedoch seinen Filmverstand ein. Er kam auf die Idee, anhand von Landkarten zu demonstrieren, wie nah die Konzentrationslager bei den Lebenswelten der angeblich ahnungslosen Deutschen lagen. Und er bestand darauf, Schwenks von den Massengräbern hin zu den deutschen Nachbarn zu verwenden, um jeder Kritik Einhalt zu gebieten, dieser Zusammenhang sei nur durch die Montage fingiert.
Regelmäßig zeigt Singer Ausschnitte aus dem Film, der nun Memory of the Camps heißt und erst sieben Jahrzehnte später fertig montiert wurde. Allerdings, und das verzeihe ich ihm nicht, sind sie im heute im Fernsehen üblichen 16:9 – Format zu sehen, und nicht in ihrer ursprünglichen Bildkomposition. Darin zeigt sich die selbe Tyrannei des Gegenwartsgeschmacks, die Guido Knopp annehmen ließ, das heutige Publikum interessiere sich für Bilder aus dem Ersten Weltkrieg nur, wenn diese nachträglich eingefärbt würden. Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist Singers Film wahrscheinlich nicht mehr in der Mediathek der ARD zu sehen. Trotz meiner Einwände rate ich nicht davon ab, ihn zu sehen. Dieser Tage bringt ihn das Britische Filminstitut BFI auf DVD heraus. Der ursprüngliche Film hingegen ist momentan nicht erhältlich. Memory of the Camps lief auf der letztjährigen Berlinale im Forum. Ich muss zu meiner Schande gestehen, ihn da verpasst zu haben. Fragmente waren bereits drei Jahrzehnte zuvor auf der Berlinale zu sehen. Nun ist er endlich vom Imperial War Museum in London rekonstruiert worden.
Fertiggestellt wurde er 1945 jedoch nicht. Produzent Bernstein war ein zu großer Perfektionist, um schnell genug zu arbeiten, damit er mit dem sich wandelnden Zeitgeist Schritt halten konnte. Die Frage, was mit den jüdischen KZ-Überlebenden geschehen sollte, war zu einem Problem geworden (etliche blieben noch Jahre dort), da ihre Ausreise nach Palästina der Politik der dortigen Mandatsmacht Großbritannien zuwiderlief. Teile des gedrehten Materials dienten immerhin als Beweismaterial während der Nürnberger Prozesse. Aber nur wenige Monate nach Kriegsende war aus dem Land der Täter ein möglicher Verbündeter im Kalten Krieg geworden, den es aufzubauen galt. Das Projekt scheiterte aus eben jenen Gründen, aus denen Kohl und Reagan in Bitburg ihre Hände hielten.
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