Ein Zeitalter wird besichtigt
Mexiko nahm 1924 als erstes lateinamerikanisches Land diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf. Man selbst hatte ja ebenfalls einige Übung in Sachen Revolution. Zu den Gemeinsamkeiten beider Länder gehörte auch die schleppend voranschreitende Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung. Hier kam das Kino ins Spiel.
In beiden Ländern war die Gesellschaft in Bewegung. Aber während Lenin den Film als Instrument politischer Gestaltung betrachtete, entstand in Mexiko ein wahrhaft und nicht oktroyiert volkstümliches Kino. Eisenstein reist nicht von ungefähr dorthin. Die Filmemacher fungierten nicht als "Ingenieure der Seele", sondern waren munter forschende Melodramatiker. Gleichwohl hinterließ das sowjetische Montagekino auch hier maßgebliche Spuren. Die USA waren indes kein ideologischer Gegner, sondern ein ökonomischer Rivale. Die eigene Filmindustrie blühte mit Beginn der Tonfilmära auf. Das entsprach einem erstarkenden Nationalgefühl und vollzog sich dank protektionistischer Gesetze. Eine Quote wurde eingeführt, die dem einheimischen Film eine Präsenz auf der Hälfte der Leinwände sicherte; das argentinische und das US-Kino verloren ihre bisherige Vormachtstellung auf dem Markt.
Diesem Goldenen Zeitalter widmet das Festival von Locarno seine diesjährige Retrospektive, die den prächtigen Titel "Espectáculo a diario" (Jeden Tag ein Spektakel) trägt. Sie ist keineswegs eine tour d' horizon durch die "offizielle" Kinogeschichte. Diese erschloss man sich in Europa bisher triftigerweise durch die Erkundung von Genres: zuerst dem Melo (hier leistete das Forum der Berlinale wichtige Schrittmacherdienste) und sodann der Film Noir (den ich im Berliner Arsenal entdecken konnte). Locarno folgt zwar ebenfalls diesem Impuls, spannt den Bogen aber noch weiter, nimmt zusätzlich die Komödie in den Blick und das eigentümliche Subgenre des "Rancheria", welches Elemente des Western und Heimatfilms mit dem Melo vermählt. Die Perspektive ist eine besondere: Die Retro hat sich mit Haut und Haaren dem populären Kino verschrieben. Der Witz dabei ist: Kommerz und Kunstfertigkeit sind kein Widerspruch.
Dieser Blick verdankt sich der Federführung von Olaf Möller, dem der unermüdlich neugierige Roberto Turigliatto zur Seite stand. Olaf ist nicht nur ein Trüffel- sondern auch ein Stachelschwein unter den Filmkurstoren: Er birgt Schätze, wo niemand sonst sie suchen würde und tut dies mit einer Wucht, die uns anderen mit der eigenen Ignoranz und dem eigenen Unwissen konfrontiert. Derart vor den Kopf gestoßen zu werden, lässt man sich gern gefallen, denn es kommt meistens Ertragreiches dabei heraus. Wo mag er nur diese ganzen Spielarten von Mexicanidad entdeckt haben?
Das Konzept bedeutet eine radikale Neusortierung der Landschaft. Statt der großen heimischen Stars (Pedro Armendariz, Arturo de Córdava, Dolores del Rio, Maria Félix) nun also eher Santo. Von Luis Bunuel ist nur der weitgehend vernachlässigte "El rio y la muerte" über eine Blutfehde zu sehen. Von Emilio Fernandez (dessen »Maria Calendaria« in Locarno mehrere Preise gewann und der Kinematografie erste internationale Anerkennung verschaffte) läuft keiner der Klassiker, sondern »Pueblerina« (in dessen Kadrage übrigens der Einfluss spürbar wird, den Eisensteins Kamermann Eduard Tisse auf den großen Gabriel Figueroa ausübte). Roberto Gavaldón steht zwar auch unter Klassikerverdacht, aber die Kuratoren haben drei entlegenere Arbeiten ausgegraben ("La noche avanza" habe ich in sehr guter Erinnerung). Ebenfalls dreimal vertreten ist Julio Bracho, den ich als einen Gesellen des Film Noir kenne. Der Name Alberto Gout ist mir aus diesem Kontext ebenfalls vertraut, René Cardona aus anderen Zusammenhängen. Aber bei den Filmbeispielen in Locarno muss ich passen. Juan Bustillo Oro, Tito Davison und all den anderen wird hier nun später Ruhm zuteil.
Welche Trouvaillen werden sich unter den Science-Fiction-, Horror- und Ringerfilmen verbergen? Das (historische) Spektrum reicht bis zu den Olympischen Spielen von 1968, die Alberto Isaac in 160 Filmminuten festhält. Ich bin mithin auf köstliche Spekulationen angewiesen. Vermutlich wird das Übergenre des Melodrams das Programm prägen, das in Mexiko nicht nur eigene Codes und Mechanismen der Katharsis besitzt und enorm porös ist, offen für Ironie und Burleske. Ein von der Zensur nicht unnötig eingeschränktes Kino ist zu besichtigen, fieberhaft und plastisch, lyrisch und melodiös. Exzentrische Szenarien sind zu erwarten, voller haarsträubender Wendungen und mit viel Raum für Subversion und Bizarrerien, ungeniert schwefelhaft und furchtlos. Wie gern wäre ich in den nächsten Tagen in Locarno!
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