Eine kleine Stoffgeschichte
Dem englischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu "Martin Eden" kann man entnehmen, welch reiches Nachleben Jack Londons Roman in anderen Medien hatte. Das Buch inspirierte Songtexte, wird in mehreren Filmen (»Es war einmal in Amerika«, »Die schönste Zeit unseres Lebens«) und TV-Serien (»Un village francais- Überleben unter deutscher Besatzung«) gelesen oder verschenkt (»Die Schachspielerin«). In Russland, behauptet der Titelheld von Nabokovs »Pnin«, kennt es jeder.
Und natürlich wurde es mehrfach adaptiert. Es gibt in der IMDB sogar noch einen Eintrag nach Pietro Marcellos magistraler Verfilmung. Bereits das Stummfilmkino interessierte sich brennend für die Vorlage, selbstredend in Russland (1918, aber vermutlich noch vor der Revolution entstanden) und bereits vier Jahre zuvor drehte von Howard Bosworth eine erste Version, an der offenbar auch der Romanautor beteiligt war. Ich kenne sie leider nicht. Aber in seiner sehr schönen (weil den ersten, blasierten Festivaleindruck revidierenden) Kritik für die "Frankfurter Rundschau" macht Daniel Kothenschulte den Film gar als eine Inspirationsquelle für Marcello namhaft. Im Gegenzug bin ich überzeugt, dass die zweite amerikanische Adaption spurlos an dem italienischen Regisseur vorüberging.
Ihre Entstehungsgeschichte ist bemerkenswert. »The Adventures of Martin Eden« von 1942 geht auf den umtriebigen und wunderbar dubiosen Produzenten Samuel Bronston zurück, mit dem ich mich an dieser Stelle erstaunlicherweise bislang nur einmal beschäftigt habe (im Eintrag »Das Leben – ein Schwindel II« vom 10. 6. 2018). Vor seiner bewegten Karriere in Hollywood, dem Vatikan und Franco-Spanien war er Ende der 1930er in Paris für diverse Filmfirmen tätig. Auf einer Reise lernte er Londons Witwe Charmian kennen und überredete sie, ihm die Filmrechte an dessen Romanen zu verkaufen. Der Scheck platzte zwar und der windige Charmeur musste flugs in die Niederlande fliehen. Aber anscheinend war die Witwe nicht nachtragend. Ein paar Jahre später ließ sie zu, dass Bronston für die Columbia »The Adventures of Martin Eden« produzierte und wirkte 1943 angeblich auch an dessen Biopic über ihren Gatten mit.
Ich will nicht ausschließen, dass Bronston den Roman tatsächlich gelesen hat. Regisseur Sydney Salkow blieb bei der Fließbandproduktion bestimmt keine Zeit dazu. Drehbuchautor W.L. River hingegen, der später auf der Schwarzen Liste landete, wird es zweifellos getan haben. So oder so erzählt ihr Film eine andere Geschichte. Columbia versuchte, mit ihm an den Erfolg anzuknüpfen, den Warner Brothers ein Jahr zuvor mit „Der Seewolf“ feierten; die Handlung stellt über weite Strecken gar ein inoffizielles Remake dar. Der Plural im Titel ist eine Mogelpackung – Martin erlebt, wenn überhaupt, nur ein einziges Abenteuer. Es trägt sich wohl in der Gegenwart von 1942 zu. Ganz genau kann man das nicht sagen, denn Columbia gehörte damals zur Poverty Row in Hollywood und gab wenig Geld für Dekors und Kostüme aus. Der ganze Film spielt bei Nacht und wurde komplett im Atelier gedreht. Gewissermaßen ein unfreiwilliger Film Noir. Über die Güte von Franz Planers Fotografie liefert die miserable Kopie, die auf Youtube zu sehen ist, keinen Aufschluss.
»The Adventures of Martin Eden« ist als Missverständnis hoch interessant. Er stellt London auf den Kopf. Die Vorspanntitel sind als Zeitungsschlagzeilen gestaltet, was vielversprechend ist. Der von Glenn Ford gespielte Martin greift in einen Gerichtsprozess ein, um den Bruder einer Freundin (Claire Trevor) zu retten. Er begehrt auf, aber nicht gegen soziale Missstände, sondern nur ein mögliches Fehlurteil. Zu diesem Zweck wird er zu einer Art Enthüllungsschriftsteller: Wahrheit und Literatur gehen hier manch naiven Tauschhandel ein. Irgendwie gerät Martin an die reiche Familie Morse, verliebt sich in die Tochter (Evelyn Keyes) und lernt in ihrem Haus den berühmten Autor Brissenden kennen, der sein Idol ist, dem er aber nicht nacheifert. Hier heißt er nicht Russ, sondern Carl und ist ein zynischer Salonlöwe bar jeder radikalen Agenda. Er stiehlt Martin sogar eine Geschichte. Als London-Verfilmung schlägt das Ganze fürwahr kuriose Volten. Einen Bildungsroman erzählt der Film mitnichten; wenngleich Fords Umgangsformen und Grammatik ("It don't take much time."- "It doesn't take much time.") nachgebessert werden müssen, ist er eigentlich schon ein fertiger Held. In seinem Abscheu über Trevors von der Arbeit gezeichneten Hände kommt er dem Roman dann doch für einen Moment überraschend nahe.
Mit dem italienisch-deutschen TV-Vierteiler »Martin Eden« hat Bronstons Film nur gemeinsam, das auch dabei ein großer Kameramann (Pasqualino de Santis) unter seinen Möglichkeiten agieren musste. Er war übrigens, als er 1980 im ZDF lief, meine erste Begegnung mit dem Stoff. Damals war die Glanzzeit der Adventsmehrteiler, die wir allwöchentlich gebannt vor den Bildschirm verfolgten (»Lederstrumpf«, »Tom Sawyer und Huckleberry Finn«, »Der Seewolf«) schon vorüber. Als Spätlicht schlug »Martin Eden« ohnehin ziemlich aus der Art. Eine hinzuerfundene Episode, in der Martin kurz als Goldgräber nach Alaska aufbricht, sollte zwar das Markenzeichen Jack London bekräftigen. Aber dass der Titelheld züchtigen Sex hat, kam in den vorangegangenen Produktionen nicht vor (mal abgesehen von einem spitzbübischen Kuss, den Tom möglicherweise Becky Thatcher auf die Wange drückt), und es war unerhört, dass er am Ende Selbstmord begeht. Vor allem ist mir die Szene im Gedächtnis geblieben, in der Martin eine Bibliothekarin bittet, ihm beizubringen, wie man mit Besteck isst. Die ist sogar triftiger als ihr Äquivalent im Roman; es passt viel besser zu seiner Entwicklung, dass eine Frau ihn Tischsitten und Lebensart lehrt. Als ich den Vierteiler jetzt auf DVD wiedersah (bei Pidax erschienen) fand ich die Szene wirklich ulkig, denn er schüttet unversehens einen ganzen Sack voll Besteck über den Tisch aus.
Er ist ohnehin nicht schlecht gealtert. Co-Autor des Drehbuchs ist der Historiker und London-Biograph Andrew Sinclair, und Regisseur Giacomo Battiato versteht es, selbst die Komparsen im Hintergrund lebhaft zu animieren. Als Martin nach der ersten Begegnung mit Ruth Morse in den Spiegel blickt und sich entschließt, eine Zahnbürste zu kaufen, mag einen der Anblick von Christopher Conellys strahlend weißem Hollywood-Gebiss noch mit Skepsis erfüllen. Aber bald entwickelt die Miniserie einen sehr italienischen Blick auf die trostlose Mühsal proletarischen Lebens. Battiato hat ein Händchen dafür, Armut fernsehgerecht in Szene zu setzen. Die Frauen aus dem einfachen Volk sind gut besetzt, mit Mimsy Farmer und besonders Andrea Ferreol, in deren Augen großer Lebenshunger leuchtet, obwohl sie eigentlich müde sein müssten. Della Bocardo ist demgegenüber blass als Ruth Morse, während Capucine als deren Mutter einen Hauch von Ambivalenz in ihre starre Unergründlichkeit legt. Connellys Martin ist angemessen maßlos in seinem Ehrgeiz (er will gleich die ganze öffentliche Bibliothek verschlingen), man spürt seinen namenlosen Drang, sich zu ändern und eventuell auch die Welt. Die sozialen Gegensätze, mit denen er ringt, sind ruppig ausformuliert. Das multikulturelle Oakland der vorletzten Jahrhundertwende, obgleich irgendwo in Italien rekonstruiert, wirkt lebhaft schäbig als Kontrast zum bürgerlichen San Francisco. An dem Schriftsteller Martin ("Ich werde schnelle, harte Sätze schreiben.") nimmt der Vierteiler ein eher nachrangiges Interesse. Er sollte eben zur besten Sendezeit laufen, da war der bunte Betrieb des Alltagslebens anschaulicher. Dieser „Martin Eden“ bleibt der Vorlage entweder bieder treu oder verrät sie anständig. Ein reizvolles Doppelprogramm also mit Pietro Marcellos Verfilmung, die das alles ganz anders macht.
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