Wiederbegegnung mit einem Blick
Während unseres Gesprächs zerbrach die Fassung meiner Brille. Ich weiß nicht mehr, wie und warum das geschah – das Interview war lebhaft, aber keiner von uns gestikulierte besonders viel -, sondern nur noch, dass es glücklicherweise gegen Ende unserer Sitzung passierte. William Klein musste ohnehin bald aufbrechen, denn er hatte mittags eine Verabredung mit japanischen Geschäftsleuten.
Er versprach aber, mich zu einem hervorragenden Optiker auf dem Boulevard St. Michel zu begleiten, der mir sicher helfen könnte. Dort wurden wir überschwänglich begrüßt, was ihn sehr erstaunte. Inzwischen war er in Eile (»Es sind zwar Japaner, aber nicht so geduldig, wie man meint!«) und ließ mich in der Obhut des Optikers zurück, der das Brillengestell tatsächlich so fachmännisch reparierte, dass es für den Rest meines Aufenthalts in Paris hielt. Geld wollte er dafür keines, denn ich war ja ein Freund von Monsieur Klein. Diesen Status hätte ich mir nie angemaßt, aber stolz war ich trotzdem. Seither habe ich Klein nie wiedergesehen - unser Gespräch hatte etwas Abgeschlossenes -, aber manchmal halte ich noch kurz vor dem Geschäft am Boul' Mich inne, dessen Inhaber zweifellos gewechselt hat, das ich in einem ähnlichen Notfall aber ohne Zögern wieder aufsuchen würde.
Seit ich die Klein-Ausstellung gesehen habe, die gerade bei C/O Berlin läuft, ist mir die Begegnung wieder ganz gegenwärtig. Sie fand im Winter 1991 statt. Ich sollte den Fotografen und Filmemacher für die taz interviewen, da eine Retrospektive seiner Filme in einigen deutschen Städten lief und im März eine Fotoausstellung im Münchner Stadtmuseum eröffnete. Kleins Filme kannte ich damals besser als seine Fotografien. Das gab unserem Gespräch eine leichte thematische Schieflage, die ihm ganz recht war. Es bereitete ihm Genugtuung, als Filmemacher ernst genommen zu werden. Er war stolz auf das Urteil von Orson Welles, »Broadway by light« sei der erste Film, bei dem die Farbe absolut unverzichtbar sei. Er sprach ausführlich über seine eigenen Filme, aber kaum über die Arbeit an Louis Malles »Zazie«. Aus dem Plan Federico Fellinis, ihn als Assistenten zu verpflichten, war aus diversen Gründen nie etwas geworden.
Als Fotograf, meinte er, würde er auf wenige Bilder reduziert, im Grunde auf ein einziges: das berühmte Foto des New Yorker Jungen, der mit grimmigem Blick eine Pistole auf die Kamera richtet. Ich fand, dass es bezeichnend und charakteristisch für seine Arbeit war, die ich als Geste direkter, spannungsvoller Konfrontation wahrnahm. Selbst seine Modefotografie wollte ich damals über diesen Kamm scheren, die mir wie ein Test erschienen, ob sich die exotischen Modelle in der urbanen Wirklichkeit behaupten könnten. (»Momente der Deplatziertheit« lautete die Überschrift, die mein damaliger Redakteur, der eminente Fotografiekenner Ulf Erdmann Ziegler, dem Interview gab.) Klein klärte mich auf, das Foto mit dem angriffslustigen Jungen sei ein Spiel gewesen, eine Inszenierung. Dass es nun als Ikone urbaner Gewalt galt, ärgerte ihn. Ich solle mir doch nur dessen Freund daneben anschauen, der sehe wie ein Engel aus! Klein war ein resoluter, ein reflektierter und unbequemer Verteidiger seiner Arbeit.
Er wirkte selbst ungemein jugendlich. Er hatte schulterlanges, graumeliertes Haar, war schlaksig, trug verwaschene Jeans (und zu dem Treffen mit den Japanern eine wettergegerbte Schultertasche aus Leder, die ihn wohl seit Jahrzehnten auf Reisen begleitet hatte). Im Gegensatz zu seinem Kollegen Richard Avedon, der sich beim Interview wie ein Fürst gab, konnte man sich nicht vorstellen, dass Klein jemals zu irgendeiner Art von Establishment gehören würde. Er war ein expatriierter Amerikaner, agil, rastlos ironisch und weltoffen. Das spiegelt sich in seiner Arbeit wider. Die Ausstellung vermittelt einen bündigen, umfassenden Eindruck von ihrer Vielgestaltigkeit. Dabei hat sie sich im Lauf der Jahrzehnte kaum verändert. Noch immer wirkt sie unmittelbar, roh, vorläufig. »Ich hatte keine Ausbildung, wollte eigentlich Maler werden«, erzählte er damals, »deshalb kannte ich weder Komplexe noch Tabus.« Er brach einfach mit den Geboten der Zeit, die nach dem Krieg vor allem Henri Cartier-Bresson aufgestellt hatte. Kleins Fotos durften grobkörnig sein, kontrastreich, verschwommen, wüst kadriert und entschieden subjektiv. Man kann sie fast für Schnappschüsse halten.
Eine Facette dieses Werks ist die Wiederbesichtigung, die Neuinterpretation. Einige seiner alten Kontaktbögen hat er vergrößert und mit einem speziellen farbigen, meist roten Lack markiert. Das verleiht ihnen eine ganz eigene grafische Anmutung, die demonstriert, dass dieser Künstler nicht einmal Respekt vor der eigenen Arbeit haben muss. (Die Technik ist so einzigartig, dass er 2007 einen Plagiatsprozess gegen John Galliano und Dior gewann, die eine Werbekampagne in diesem Stil gestaltet hatten.) Die Großformate sind maßgeblich für die Wirkung der Ausstellung: Sie springen den Betrachter an, lassen keinen Abstand zu.
Ebenso wichtig ist aber die Zusammenschau. So kraftvoll einzelne Bilder auch sein mögen, sind sie doch stets in einem Ensemble aufgehoben. Anders als bei Gordon Parks (siehe meinen Eintrag »Verschlossene Türen einrennen« vom 1.11.2016) entfalten sie sich jedoch nicht in einer seriellen Form, bilden keine Sequenzen, sondern markieren Blickwechsel. Ihre Montage ist rissig. Als das fast wichtigste Medium betrachtete Klein lange Zeit (ich würde gern wissen, was er von der digitalen Bilderwelt hält) Bücher. Dort füllen seine Fotos die Seiten meist ganz aus (auf die konventionellen weiße Bildränder verzichtet er), was ihre Ausschnitthaftigkeit betont. Er bevorzugt er Weitwinkelobjektive, um nah dran zu sein und zugleich möglichst viel in ein Bild hineinzuzerren. Seine ersten Großstadtbücher, über New York (von sämtlichen Verlagen abgelehnt, bis Chris. Marker es bei den Editions du Seuil durchsetzte), Moskau, Tokio und Rom, begründeten seinen Ruhm. Später folgte »Klein+Paris«. Dort lebt er seit 1948, aber seine Fotos weisen ihn zum Glück immer noch als neugierigen, erstaunten und ironischen Fremden aus.
Unsere Begegnung ist mir einerseits so lebhaft in Erinnerung, weil sie in meinen Anfangsjahren lag, als das Herzklopfen vor Interviews noch größer war. Aber ich spürte auch, dass einer wie Klein absolute Geistesgegenwart verlangte. Eigentlich müsste ich mich an den Blick von seinem Balkon erinnern, denn der ist spektakulär: Seine Wohnung liegt direkt gegenüber dem Jardin du Luxembourg. Aber dieser »million dollar view«, wie ihn die New York Times nannte, spielte für uns keine große Rolle, denn Klein wollte schnell zur Sache kommen. Ein paar Jahre später konnte ich den Blick nachholen, denn André Téchiné wohnt im selben Haus, ein Stockwerk über ihm.
Wir drehten ein Interview für die Sendereihe »Kinomagazin«. Es muss im Frühjahr 1997 gewesen sein, kurz bevor »Diebe der Nacht« bei uns herauskam. Der Dreh war auf zwei Tage angelegt und am Ende des ersten sah es so aus, als kämen wir mit nicht mit heiler Haut aus dem Haus: Vor der Tür fand eine Demonstration statt, bei der wütend für das Bleiberecht der sans-papiers gestritten wurde. Mein Kameramann bangte um seine Ausrüstung, wollte aber Téchninés Angebot, sie über Nacht in dessen Wohnung zu lassen, partout nicht annehmen. Während das Team zusammenpackte, blickten unser Gastgeber und ich hinunter. »Schauen Sie«, sagte Téchné plötzlich, »das ist Madame Klein da auf dem Balkon!« Die Nachbarn winkten sich höflich zu. Ob Téchiné wusste, wie sie sich kennenlernten? Er verneinte. Es ist eine hübsche Geschichte. Klein war nach seinem Militärdienst in Deutschland dank der G.I. Bill zum Studium nach Paris gekommen. Er war jung, einsam und schüchtern. Eines Tages sah er eine schöne junge Frau auf der Straße, die er nach dem Weg zur Kunsthochschule fragte. Ihr Name war Jeanne, sie heirateten kurz darauf und blieben mehr als ein halbes Jahrhundert zusammen, bis sie vor einigen Jahren starb.
An diesem Tag im Frühjahr 1997 war ihr Mann nicht zu sehen. Ich vermutete, er sei unten in der Menge und fotografiere. Die Straße, das zeigt die Berliner Ausstellung, ist Monsieur Kleins Element. Er fühlt sich sichtlich wohl in Menschenmengen: Er ist kein Teil von ihnen, gehört aber dazu. Seine Motive findet er im öffentlichen Raum. Die meisten Menschen, die er fotografiert, Passanten. Sie sind Individuen, die erst als Akteure im Schauspiel der Welt Bedeutung für ihn gewinnen. Dabei kann Intimität entstehen, sich Privates offenbaren, Einsamkeit aufscheinen. Zu seinen eindrücklichsten Bildern gehören Aufnahmen, die er bei Trauerzügen gemacht hat. Eine Klein-Foto ohne die Dynamik des Neben- oder Miteinander ist schwer vorstellbar. Darin steckt weniger das Pathos der humanistischen Schule, sondern eine Wachsamkeit für das, was Gesellschaften bewegt.
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