Kritik zu Wo ist Anne Frank
Ari Folman stellt in der Adaption seiner eigenen Graphic Novel die bekannte Geschichte in einen neuen Kontext
»Boah, nicht schon wieder KZ!«, stöhnt ein Schüler in Bora Dagtekins Hit-Komödie »Fack ju Göhte« von 2013. Der prägnante Oneliner bringt noch heute die nicht durchdachte pädagogische Vermittlung des Holocaust an die jüngere Generation auf den Punkt. Ari Folman setzt in seinem Film genau bei diesem Überdruss an. Unter den Tausenden Besuchern, die sich tagein, tagaus durch die engen Räume des Amsterdamer Anne-Frank-Museums drängen, befindet sich auch ein Mädchen in Annes Alter. »Was sind das für Fotos?«, fragt sie ihre Mutter und deutet auf ein vergilbtes Bild von Clarke Gable. »Filmstars, die Anne bewunderte«, lautet die Erklärung. »Aber die kenne ich ja alle nicht«, erwidert das gelangweilte Kind. »Natürlich nicht, du warst damals ja noch nicht auf der Welt.« Die Erklärung erreicht das Ohr der rotzigen Göre nicht wirklich. Diesem Unverständnis will Folman mit seinem Film abhelfen. Nach »Waltz with Bashir« hat der israelische Regisseur nun »Das Tagebuch der Anne Frank: Graphic Diary«, das er gemeinsam mit dem ukrainischen Comiczeichner David Polonsky verfasste, in bewegte Bilder umgesetzt.
Adaptionen des weltberühmten Tagebuchs gibt es ja eigentlich schon genug: Audrey Hepburn sollte ursprünglich die Titelrolle in George Stevens’ erfolgreicher Adaption »The Diary of Anne Frank« von 1959 verkörpern. Der britische Dokumentarfilm »Anne Frank – Zeitzeugen erinnern sich« gewann 1996 den Oscar. Zuletzt setzte Hans Steinbichlers werkgetreue Adaption aus dem Jahr 2016 auf emotionale Überwältigung.
Dagegen lotet Ari Folman den Stoff nun mit einer wirkungsvollen Grundidee neu aus. Sein Film erweckt Kitty zum Leben, jene imaginäre Gesprächspartnerin, der Anne all ihre intimen Gedanken anvertraute. Wie Prirandellos berühmte sechs Personen, so sucht auch Kitty in unserer heutigen Zeit nach der Autorin des Tagebuchs. Kitty ist ein Geist, der nicht zur Ruhe kommt. Denn da die Schreiberin selbst ihr Tagebuch nicht vollenden konnte, stellt Kitty sich jene Frage, die zum Filmtitel wurde: »Wo ist Anne Frank?«
Zu Kittys großer Verwirrung erhält sie Tausende von Antworten. Jeder Passant, den sie anspricht, kennt Anne Frank. Denn die ist buchstäblich überall präsent. Es gibt eine Anne-Frank-Straße und ein Anne-Frank-Theater. Sogar mit einer lebensgroßen Statue wurde sie verewigt. Ohne es in gelehrige Worte zu fassen, wird Kitty rasch klar: Diese Omnipräsenz führte zu einer gewerbsmäßig betriebenen Erinnerungskultur. Anne Frank wurde zu einem nationalen Kulturgut.
Gegen dieses routinierte Gedenken begehrt Kitty auf. Kurzerhand klaut sie das originale Tagebuch und bricht aus dem Museum aus. Im Zuge eines Katz-und-Maus-Spiels mit der Polizei, die um das wie eine Reliquie verehrte Tagebuch besorgt ist, wird Anne Franks Geschichte quicklebendig.
Dabei changiert der Plot zwischen der Gegenwart und der historischen Zeitebene. In den Straßen der 1940er Jahre marschieren Nazi-Schergen, überlebensgroße Schreckfiguren mit Totenköpfen. Die Bebilderung ist eindringlich, drängt sich nicht in den Vordergrund. Mit ihrer zweckgebundenen Ästhetik tritt die Visualisierung hinter die erzählte Geschichte zurück. Denn die steht für sich. So bricht Kitty mit einem gleichaltrigen Jungen auf nach Bergen-Belsen, wo sie am Grabstein von Anne Frank endlich erfährt, was mit der Autorin geschah.
Emotional mag dies vielleicht ein wenig forciert sein. Dennoch schafft es der Film, die Geschichte – auch im Sinne von Historie – auf verblüffende Weise wieder lebendig werden zu lassen. Ari Folman, selbst ein Kind von Auschwitz-Überlebenden, und sein Ko-Drehbuchautor Jani Thiltges belassen es dabei nicht. Sie schließen das Anne-Frank-Motiv an einen weiteren Gegenwartsbezug an: Kitty droht in einem Schlüsselmoment mit der Verbrennung des Tagebuchs – falls eine Gruppe von Bootsflüchtlingen in deren Heimat abgeschoben wird.
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