Was er verpasst hat
Ich glaube, ihre Lust an der Fiktion war trotz allem groß. Gewiss, beim Lesen ihrer Geschichten ist man ständig verführt, in Lucia Berlins Biographie zu graben. Sie wirken wie Vignetten ihres Lebens, aus dessen Fundus sie beim Schreiben unaufhörlich zu schöpfen schien.
Das ging bestimmt nur, weil die amerikanische Schriftstellerin sich maskierte. Sie setzte die Masken der Figuren auf, die bemerkenswert oft ihren Vornamen trugen. Aber sie war eine Erzählerin, und das kann man schlechterdings nicht ohne Phantasie sein. Es braucht schließlich auch eine ungeheure Kraftanstrengung, sich so unablässig zu entäußern, sich fortwährend zu all dem zu bekennen, was gefährlich war in ihrem Leben; an erster Stelle der Alkohol. Die 43 Kurzgeschichten, die in "A Manual for Cleaning Women" gesammelt sind, handeln mehr oder weniger alle davon, wie leicht es ist, im amerikanischen Leben unter die Räder zu kommen. Auch das darf man lebensgeschichtlich interpretieren; berühmt wurde die Schriftstellerin erst zehn Jahre nach ihrem Tod. Die deutsche Übersetzung "Was ich sonst noch verpasst habe" soll sehr gut sein; sie umfasst allerdings nur 30 der Geschichten. Wie es sich in Spanien verhält, weiß ich nicht. Aber ich gehe davon aus, dass Pedro Almodóvar die vollständige Fassung gelesen hatte, als er sich entschloss, einen Film daraus zu machen.
Die Nachricht, dass er seinen Plan nun aufgab, war für mich die große Enttäuschung dieses Septembers. Zu Beginn des Jahres hatte er noch vollmundig verkündet, den Film demnächst mit Cate Blanchett zu drehen. Mit der Unbestimmtheit dieser Frist konnte man leben. Ich wartete schon seit drei Jahren. 2019 kündigte er erstmals an, fünf der Geschichten zu adaptieren. Dass Antonio Banderas in »Leid und Herrlichkeit« in dem Buch liest, war wie eine Besiegelung. Das Vorhaben war ein Rätsel, mindestens so prächtig wie die Frage, was Jacques Audiard an den graphischen Kurzgeschichten von Adrian Tomine interessierte. Natürlich wollte ich sofort wissen, um welche Geschichten es sich handelte. Meine Mail an seine Produktionsfirma "El Deseo" blieb ohne Antwort. Ich vermute, vor seinem ersten Langfilm in englischer Sprache scheute er zurück wie ein Pferd vor der höchsten Hürde. Also nahm er vorsichtshalber erst einmal Maß an niedrigeren Hindernissen, drehte »The Human Voice« mit Tilda Swinton (siehe "Ein Werkzeugkasten" vom 2. August) und nun »Strange Way of Life«, seinen Halbstundenwestern in der Tabernas. Das Hin und her ist kein Wankelmut seinerseits; womöglich haben die Etüden seine Angst nicht vertrieben.
Das Projekt existiert weiter. Cate Blanchetts Produktionsfirma "Dirty Films" ist noch immer daran beteiligt. Als Schauspielerinnentraum funktioniert es vielleicht, Berlins zahlreiche Masken und Alter egos wären fürwahr eine Herausforderung für die Vielseitige. Ein Produzententraum hingegen ist es nicht. Die Geschichten sind zwar ereignisreich, aber handlungsarm. Nein, so etwas entsteht nur, weil ein Filmemacher brennend an der Realisierung interessiert ist.
Ich nehme an, Almodóvar hatte sich in Berlins Stimme verliebt, in ihren unverwechselbaren Ton, diese Lakonie, in der Amerikaner von Einsamkeit erzählen können. Hat er gemerkt, dass er eigentlich ihren Stil verfilmen wollte? Ich fürchte, er war einfach auch zu sehr fasziniert von Berlins Fama, ihrer postumen Legende. Sie wäre seine eigentliche Hauptfigur gewesen: eine Frau, die viele Leben gelebt hat. Wie verführerisch das ist, kann man leicht nachvollziehen. Ihre Masken sind kluge, wache Interpretinnen ihres Lebens: voller Erstaunen über die Einrichtung der Wirklichkeit, dabei stets skeptisch, aber nie ohne Zuversicht, ungekannte Aspekte zu entdecken. Sie sind zu spontaner Hingabe an den Moment fähig, halten sich offen für Zufallsgemeinschaften.
Die Geschichten sind oft sehr kurz, sie enden mitunter verblüffend schnell. Was sie fortlassen, eröffnet neue Welten. Man erwartet ihre Fortsetzung, will nicht pausieren nach einer oder zweien, um die Melodie nicht zu verlieren. Aus ihr klingt Empfänglichkeit. Manchmal wechselt Berlin die Perspektive zwischendrin. "Let me see you smile" beginnt als die Ich-Erzählung eines jüdischen Anwalts, aber dann übernimmt eine andere Figur die Stafette. Zuweilen folgen die Geschichten in der Tat lose aufeinander, ein Echo antwortet auf eine vorangegangene.
Die Suche nach den fünf, die er adaptieren wollte, hatte ich bisher nie ganz aufgegeben. Natürlich mussten die Titelgeschichten irgendeine Rolle spielen, aber welche? Ich stellte mir vor, dass der Korpus der Erzählungen, in denen die Protagonistin (oder eher: die Protagonistinnen) nachts auf einer Notfallstation arbeiten, hätten einen Rahmen bilden können für die Vielgestaltigkeit amerikanischer Lebensbetrachtungen. Das Paar, das in "Let me see you smile" eine tolle, verrückte Dynamik entwickelt, hätte auftauchen können. "Here it is Saturday", wo "sie" kreatives Schreiben in einem Gefängnis lehrt, schien mir hingegen kein Kandidat zu sein. Aber wunderbar, wie sie feststellt, dass Poeten und Kriminelle verwandte Seelen sind, weil sie die Welt nachbessern wollen und einen Blick für Details haben.
Von einem gewissen Zeitpunkt an handeln die Geschichten zusehends vom Älterwerden – sie folgen einer lebensgeschichtlichen Chronologie -;in den späteren kommen häufiger körperliche Gebrechen zur Sprache und rückt der Tod näher. Der Regisseur von »Leid und Herrlichkeit« wird ihre Wehmut und Traurigkeit genau verstanden haben. Wer könnte ihn ersetzen, sich an seiner Stelle einen Reim auf diese vielen erzählten Leben machen? Niemand.
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