Verschlungene Wege

Die Sprache Europas, von der die Unterzeichner des Manifests von Cannes vermuten, dass nur wenige sie verstehen, ist Englisch. Eine gemeinsame ist sie mithin nicht, vielmehr eine pragmatische Übereinkunft; auch im Hinblick auf den Weltmarkt. Sie wird eventuell widerwillig und mit mehr oder weniger dickem Akzent gesprochen, was die Kommunikation nicht einfacher macht.

So hatte beispielsweise das Publikum einer Podiumsdiskussion, die zum ersten Europäischen Filmpreis (oder einem der ersten) in Berlin veranstaltet wurde, beträchtliche Schwierigkeiten, den Moderator Bernardo Bertolucci zu verstehen. Dabei hatte der zu diesem Zeitpunkt schon einige englischsprachige Filme gedreht. Nun ja, irgendwann hörte man sich in seinen Wortklang ein und konnte der Debatte folgen. Es ging um ein ewig aktuelles Thema: die Zukunft des europäischen Kinos. Befremdlich wirkte, nicht nur aus heutiger Sicht, das Eröffnungsstatement des Italieners. Er wunderte sich darüber, wie viel visueller Einfallsreichtum, filmisches Raffinement und Intelligenz in einige aktuelle europäische Erfolge eingegangen seien, die er inhaltlich aber völlig belanglos fand: „Delicatessen“ und „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Die Klage über Almodóvars Film hätte er, im Licht dessen folgender Entwicklung, später vielleicht nicht mehr aufrechterhalten. Aufschlussreich war sie dennoch.

Mein erster Gedanke war damals, dass ein Zusammenhalt im europäischen Kino noch weit entfernt ist. Es war noch längst nicht vereint in Vielfalt, wohl aber in einer Parallelwelt der Bürokratie (die nach wie vor wuchert und in der heute noch immer Leute, die sich für kreativ halten, Karriere machen). Es war die Zeit, in der viele Entscheidungen über Besetzung und Drehorte schlicht aus Opportunismus getroffen wurden. So verheerend wirkt die Förderung heute nicht mehr. Aber wenn seinerzeit in einer Filmkritik der Begriff „Europudding“ auftauchte, war das unweigerlich die Präambel zu einem Verriss. Bertoluccis Äußerung war kein Schritt in eine andere Richtung; im Gegenteil. Aus ihr sprach die Unduldsamkeit des altgedienten Autorenfilmers gegenüber jüngeren Regisseuren, die offensiver das Publikum suchen. Sie offenbarte einen Generationengraben, der hoffentlich so nicht mehr im europäischen Kino klafft.

Im Wahlergebnis des vergangenen Sonntags zeigt er sich dafür umso mehr. Allerorten das große Augenreiben am Morgen danach. Die Union sucht verzweifelt nach Freunden auf dem eigenen Kontinent. Aber während Ibiza-Strache nun dank so genannter Vorzugsstimmen ein Direktmandat in Brüssel sicher ist und Viktor Orbàn in Ungarn an seinem „System des nationalen Zusammenhalts“ zimmert, steckt das europäische Kino meiner Ansicht nach nicht in einer Rechtfertigungskrise: Jeder Film gibt ein Versprechen, das er augenblicklich halten muss. Auf der Leinwand ist Europa kein ganz so blasser Mythos. Das Kino kann sich Ermüdung nicht leisten, es ist in der Regel immer schon weiter, näher dran, reagiert freier als die Politik. "Welcome" von Philippe Lioret, das vergisst man leicht, trug dazu bei, die Gesetzgebung zur Migration in Frankreich zu ändern.

In meiner Jugend versprachen Reisen in die europäische Nachbarschaft den Zutritt zur weiten Welt. Mein Atem ging ganz anders, sobald ich in England, Frankreich oder Italien war. (Für Holland galt das nicht so.) Damals musste man noch Grenzen passiere, aber das schmälerte mein Gefühl von Freiheit nicht. Sebastian Schippers neuer Film holt diese Stimmung der Freizügigkeit aktuell und komplizierter ein: Die territorialen Grenzen sind gefallen, dafür existieren nun andere. Er trägt keinen deutschsprachigen Titel, sondern heißt „Roads“. Das ist, schon im Hinblick auf seine Exportchancen, kein Fehler. Ein Straßenfilm ist etwas Anderes, historisch betrachtet: ein Subgenre aus der Weimarer Zeit. Das Road movie ist allerdings eigentlich keine amerikanische, sondern eine europäische Erfindung, man denke nur an die italienische Komödie, insbesondere „Verliebt in scharfe Kurven“. Diese Abkunft ließ Hollywood zeitweilig in Vergessenheit geraten. Wim Wenders und Robby Müller mussten sie sich in den 1970er Jahren erst zurückerobern. Um ein Jahrzehnt später ihren Cannes-Erfolg „Paris, Texas“ sehen zu können, mussten jedoch zunächst einmal Grenzen überwunden werden, denn in Bundesrepublik startete er viel später als anderswo. Mir ist noch lebhaft in Erinnerung, dass ganz Ungeduldige sich zu Fahrgemeinschaften zusammenschlossen, um ihn in der Schweiz zu erhaschen. Sogar von gemieteten Bussen war die Rede.

Für die Filmemacher aus Wenders' Generation war das europäische Kino ohnehin ein Fluchtpunkt. Es gab gab nach 1933 keine heimische Filmtradition mehr, auf die sie sich berufen mochten. Ihre Träume vom Kino wurden von der Nouvelle Vague und dem italienischen Aufbruch in die Moderne geschürt; vom britischen interessanterweise weniger. Ob sie Bergman noch mochten, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es wäre natürlich unredlich, die Fremdheit zu unterschlagen, die dennoch herrschen konnte. Ich erinnere mich noch gut, wie Fassbinder seinerzeit Chabrols „Nada“ vorwarf, faschistisch zu sein. Zweifel und Entzauberung gehören zum europäischen Projekt dazu, auch im Kino.

Es gewisser Exotismus bestimmt immer noch den Blick auf die nachbarlichen Kinematografien. Er ist verdrießlich, aber harmlos. Vielleicht leiden eher die Verleiher als die Zuschauer an ihm. Vor ein paar Jahren herrschte bei uns die Unsitte, Filmen aus Frankreich englische Titel aufzudrücken. Heute müssen Paris, Monsieur oder Madame im Titel vorkommen. Die Formel „Willkommen bei den...“ lädt ein zur  Begegnung mit Leuten, die kuriose Angewohnheiten haben. Aber auch da zeigt sich ein Fortschritt: Noch bis zum Beginn des Jahrtausends galt als unumstößliche Regel, dass Humor sich nicht in Nachbarländer exportieren lässt. Andererseits entstehen nun Remakes ausländischer Komödien für den heimischen heimischen Geschmack. Wohin man auch schaut, es ergibt sich kein einheitliches Bild. Es könnte ruhig unordentlicher sein.

Aber es ist nicht zu bestreiten, dass Europa nahbarer geworden ist. Vom Pudding liest man nicht mehr so oft. Man muss Filmemacher nicht einmal mehr Grenzgänger nennen, wenn sie frei zwischen den Kinematographien zirkulieren. Der Österreicher Michael Haneke fühlt sich pudelwohl im französischen Kino. (Der Kulturschock besteht eher darin, dass er dort sympathischere Filme dreht.) Den Briten Peter Strickland hätte man nach seinem ersten Langfilm „Katalina Varga“ glatt für einen Ungarn halten können. Er kennt sich ungeheuer gut aus, wie ich in einigen liebevollen Audiokommentaren zu ungarischen Klassikern entdecken durfte. (Er hat lange in Osteuropa gelebt und dort wohl auch geheiratet.) Francois Ozons Kino hat, trotz fester Verwurzelung in der französischen Filmindustrie, eine eminent europäische Ausrichtung. Er verfilmt Romane britischer Schriftstellerinnen sowie spanische und deutsche Theaterstücke, In der Regel verdoppelt sich das Einspielergebnis seiner Filme auf dem europäischen Markt, manchmal laufen sie da sogar besser als im Hexagon. Ich entdecke darin kein nachdrückliches politisches Anliegen, das ohnehin nur als Nebenprodukt der Kreativität zählt. Vielmehr entspricht es einer persönlichen Wissbegier und Nähe. Wenn ich nur allein an die brillante Besetzung der deutschen Rollen und das Gespür für die Erzählkraft mitteldeutscher Schauplätze in „Frantz“ denke, mache ich mir nicht mehr ganz so viel Sorgen um das europäische Kino.

 

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