Herkunft und Netz
Vor ein paar Wochen, als Bong Joon-ho die Einladung in den Wettbewerb von Cannes erhielt, warnte er seine Landsleute noch vor zu hohen Erwartungen. Eine Palme, die Goldene gar, sei in weiter Ferne. Die Geschichte, die er in „Parasite“ erzähle, sei so spezifisch südkoreanisch, dass er sich nicht vorstellen könne, dass sie auf ein universales Interesse stoßen würde.
So bewundernswert seine Bescheidenheit auch ist – seit letztem Samstag wissen er, seine Landsleute und wir es besser. Womöglich erwies sich gerade dieses Spezifische, unverkennbar Eigentümliche als das Pfund, mit dem er wuchern konnte. Auf dieses Paradoxon wies vor langer Zeit schon Vittorio de Sica hin: Je tiefer ein Film in seiner Zeit und seinem Ort verwurzelt ist, meinte der italienische Regisseur, desto mehr Menschen kann er ansprechen. Diesen Gedanken führt Wolfgang Kohlhaase, der deutsch-deutsche Drehbuchveteran, in einem Werkstattgespräch mit seinem Kollegen Jochen Brunow weiter aus. Sie finden es im ersten Band von „Scenario“, dem Film-und-Drehbuch-Almanach, den Jochen zehn Jahre lang herausbrachte (und neuerdings auch im Netz: https://www.drehbuchautoren.de/sites/default/files/scenariodigital-werkstattgespraech_mit_wolfgang_kohlhaase_von_jochen_brunow.pdf). Kohlhaase sagt: „Geschichten, die um die Welt gehen, handeln von der Welt als Begriff, als allgemeinster Aufenthalt des Menschen, zugleich aber spielen sie an einem bestimmten Ort. Und je genauer, extremer und sogar je unglaublicher die Erfahrungen sind, die Menschen an diesem Ort machen, um so eher erliege ich der Versuchung, mich an ihnen zu beteiligen. Erzähle mir etwas Besonderes, das Allgemeine weiß ich schon.“
Auf diesen Impuls könnte man die seit den 1920ern weltumspannende Dominanz des Hollywoodkinos zurückführen: Warum beteilige ich mich an den Erfahrungen von Siedlern, die mit Comanchen um den Lebensraum kämpfen, von Gangstern aus Chicago oder Neurotikern aus New York? Folgt man dem Drehbuchautor, ist es jedoch eine dezidiert europäische Herausforderung: „Man sollte also sozial genau sein, man sollte wissen, wo man wohnt. Man sollte nicht alles ins Englische bringen. Das europäische Kino als Gegenerklärung zum amerikanischen kann es nur geben, wenn der europäische Film multinational bleibt und auf Vielsprachigkeit Wert legt. Man sagt leicht und falsch, etwas kann überall spielen. Es ist anders. Etwas kann überall gesehen werden, wenn es an einem Ort spielt.“
Kohlhaases vorzügliche Überlegungen ließen mich an einen Film denken, genauer einen Satz über ihn, der ansonsten seligem Vergessen anheimgefallen ist: „Foloww me“ der Österreicherin Maria Knili. Der sollte sich zwar als ein veritabler Europudding erweisen. Das ahnte ich aber noch nicht, als ich 1987 die Dreharbeiten in Berlin besuchte. Diese Visite bescherte mir das immense Vergnügen, die Hauptdarstellerin Marina Vlady zu interviewen. Das aber nur nebenbei, denn in unseren gehört, was meine damalige „taz“-Redakteurin im Vorspann zum Interview schrieb: „'Follow Me' hat keinen Ort. Er heißt Europa“. Das schrieb sie in koketter Unkenntnis des fertigen Films, aber es hat noch immer einen guten Klang. Im Wikipedia-Eintrag zum Film habe ich gerade eben nachgezählt, in wie vielen Sprachen er gedreht wurde: Es sind zehn.
Das europäische Kino ist eine Wanderung durch Länder und die Geschichte. Es muss keinen Wert auf die schnellste Verbindung legen, aber Sehnsucht im Gepäck haben. Es sollte keine territoriale Selbstgenügsamkeit und keine Peripherie kennen. Seine Geschichten überschneiden sich, seine Bilder haben eine Herkunft und bewegen sich in einem Netz. Sein Ideal ist der Dialog. Wenn wir die babylonische Sorge der Verfasser des Cannes-Manifests beim Wort nehmen, wird er in einem zugänglicheren Idiom geführt: Sie streben nach etwas, das sie „delicate imagery“ nennen. Die Bildsprache, in der man sich austauschen will, ist also feinfühlig, aber auch heikel und zerbrechlich. Bong Joon-ho würde diese Mehrdeutigkeit verstehen; ihr eignet Bedachtsamkeit und Selbstbewusstsein.
Es gibt keinen europäischen Stil, dagegen steht zum Glück die Vielfalt. Momentan gibt es noch eine Art Leitwährung. Sie stammt aus Belgien, es ist der Sozialrealismus der Dardenne-Brüder, der mit Handkamera und physischer Nähe gegen die gesellschaftliche Missstände argumentiert. Er hat ein bestimmtes Autorenkino lange und nachdrücklich inspiriert, namentlich in Rumänien. Irgendwann wird es neue Leitbilder geben. Sie könnten zum Beispiel aus Asien kommen.
Wie würde übrigens ein europäischer Film aussehen, der nicht zeitlich, örtlich und politisch grundiert ist? Eine mögliche Antwort darauf gibt Claire Denis in dieser Woche mit „High Life“. Er ist als Co-Produktion zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland entstanden, wurde weitgehend in den Studios in Hürth gedreht und schmiegt eine transnationale Besetzung zusammen, darunter Robert Pattinson (der als zugkräftig gilt, aber nach der Untoten-Saga „Twilight“ kaum noch Teenager ins Kino lockt), Juliette Binoche (die früh begriff, was europäisches Kinos sein kann) und Lars Eidinger (dem es sichtlich gefällt, auf diesem Terrain mitzumischen).
Denis erschließt dem Kontinent ein Genre, das auf ihm, von Georges Méliès, aus der Taufe gehoben, aber lange Hollywood überlassen wurde. Sie versucht erst gar nicht, ihre Kräfte mit dessen Traditionen zu messen. Stattdessen entwirft sie eine Dystopie der Körperlichkeit. Gewiss, zuweilen mag man an Douglas Trumbulls „Lautlos im Weltraum“ (der entstand, als US-Filme durchaus unamerikanisch sein durften) denken, flüchtig auch an die Abzählreim-Dramaturgie von „Alien“ (dessen Slogan „In Space no one can hear you scream“ sie mit Lustschreien dementiert). Aber damit wird ihr Film nicht fassbarer.
An der Konzeption war ein französischer Astrophysiker und Philosoph beteiligt, was dort gut zusammenpasst; die Dekors hat der isländische Künstler Ólafur Elíasson entworfen. Es gibt eine Vielzahl von kreativen Perspektiven, die ineinanderfließen. Die Mannschaft des Raumschiffes ist freilich kein reibungslos eingespieltes Team, sondern ein Bündel von Ausgestoßenen. Das würde ich ungern als Metapher lesen. Lieber weise ich darauf hin, dass Science-Fiction in Frankreich „films d' anticipation“ genannt wird. Erwartung, das ist der Normalzustand für das Projekt Europa. Eigentlich eine schöne Gewissheit.
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