Entwurzelte Neugierde
Erst am 5. April 1949 notiert Jonas Mekas in sein Tagebuch, dass er sich eine Kamera gekauft hat. Es handelt sich um eine Zeiss Ikon, mit der er nun erste Schritte unternimmt. Wie aber sind die anderen Fotografien entstanden, die er seit 1945 von den Lagern aufgenommen hat, in denen er zusammen mit seinem Bruder Adolfas als displaced person, als Vertriebener, untergebracht war?
Das ist eines der großen Rätsel, die dem Leser die Lektüre seiner nun auch auf deutsch erschienenen Tagebücher (»Ich hatte keinen Ort«, Spector Books) aufgibt. Sie sind ohnehin reich an Lücken und Ellipsen. Reicher sind sie freilich noch an Erkenntnissen über die Lehr- und unfreiwilligen Wanderjahre des jungen Litauer Poeten und Journalisten, der später zu einer zentralen Figur des US-amerikanischen Avantgardekinos werden sollte. Im Original ist »I had nowhere to go« bereits 1991 erschienen; die späte Entdeckung für den deutschen Buchmarkt verdankt sich dem Umstand, dass Mekas' Fotos aus der Nachkriegszeit auf der diesjährigen Documenta ausgestellt werden. Mit dem Ort Kassel sind diese Zeitdokumente eng verbunden, denn im Vertriebenenlager in Kassel-Mattenberg lebten die Mekas-Brüder von 1947 bis '49, nachdem sie zuvor in Wiesbaden untergebracht waren.
Die Fotos, über deren Entstehung man nichts erfährt, sind ein wichtiger gestalterischer Aspekt des Buches, fungieren als Beglaubigung und Ergänzung des Geschriebenen, als atmosphärische Zeugnisse. Mekas hält nicht nur den Alltag in den Lagern fest, sondern auch den der Deutschen, die er in der Umgebung beobachtet. Auch sie nimmt er als Entwurzelte wahr. Dieses Festhalten ist nicht nur ein dokumentarisches, sondern auch ein lyrisches. Die Brüder, ihre Landsleute und Freunde sind oft in der Natur zu sehen. Jonas' Sehnsucht nach den Landschaften seiner Heimat ist groß.
Er beschwört ihre Schönheit in Notizen und Erinnerungen. Seine Wurzeln findet er nun nur noch in der Literatur. Hunderte von Büchern schleppen er und Adolfas auf ihren Wegstrecken mit sich, die sie durch kreuz und quer durch Deutschland führen. Als displaced persons dürfen sie sich frei bewegen, müssen aber in einem Camp gemeldet sein, um Kost und Logis erhalten zu können. In jeder neuen Stadt besuchen sie zuallererst Buchhandlungen und Antiquariate. Einmal rinnt Sand aus einer Stefan-George-Ausgabe, welche die Buchhändlerin gerade erst ausgebuddelt hat. Jonas ist ein unersättlicher Leser, der seiner Neugierde keine Grenzen setzen will. Seine Lektüre ist bewundernswert heterogen, das Spektrum reicht von Gorki, Hamsun und London bis Thomas Wolfe, Hans Carossa und Stefan Zweig. An Hemingway schätzt er die Verbundenheit zu Gegenständen und zur Erde. Aus seinen Einträgen ist abzulesen, wie rasch manche Bücher, etwa Aaron Coplands »Musik von heute/Unsere neue Musik«, in Nachkriegsdeutschland erscheinen. Erstaunt stellt Mekas fest, wie viel des jeweiligen Originals in deutschen Übersetzungen zur Geltung kommt. Das muss für Heike Geißler, die seine Tagebücher übertragen hat, eine herausfordernde Messlatte gewesen sein!
Jonas' Selbstverständnis in dieser Zeit ist das eines Poeten. Er ist ein stolzer Mann. Zwar teilt er das Schicksal mit Tausenden, ja Millionen, aber es fällt ihm schwer, sich mit ihnen gemein zu machen. Auch er leidet unter Hunger und Geldsorgen, aber darüber hinaus bleiben seine Begierden platonisch. Die innere Freiheit, die er den Zeitläuften abtrotzt, wirkt zuweilen fast anmaßend, wie eine Selbstüberhebung. Wie wenig man übrigens über seinen Bruder Adolfas erfährt! Wenn er voller Abscheu über die Lebensgewohnheiten von Italienern, Bulgaren und anderen schreibt, darf man mit ihm hadern. Es gebricht ihm nicht an Empathie (wunderschön ist die Stelle, in der er befreite Kriegsgefangene betrachtet und voller Genugtuung feststellt, dass sie nicht mehr wie Sklaven aussehen, sondern ihr Zentrum wieder gefunden haben.) Mekas mag kein durchweg sympathischer Chronist sein, aber ein achtsamer ist er allemal. Ich bin ihm dankbar dafür, welch faszinierenden Einblicke in die Zeitgeschichte mir sein Buch gewährt. Nach Kriegsende errichteten die Alliierten Lager für acht Millionen Vertriebene, darunter Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Überlebende der Konzentrationslager. Ein Jahr später waren bereits sechs Millionen heimgekehrt. Die Verbliebenen waren fast ausschließlich Esten, Letten und Litauer, die sich weigerten, in ihre baltische Heimat zurückzukehren, da sie nun der Sowjetunion zugeschlagen worden war.
Das Kino wiederum ist beinahe abwesend im ersten Teil von Mekas' Aufzeichnungen. Erstmals erwähnt er zu Weihnachten 1944 einen Kinobesuch, als ein freundlicher Kinobesitzer ihn und Adolfas umsonst hereinbittet. Zu diesem Zeitpunkt sind sie noch Zwangsarbeiter in Hamburg-Elmshorn. Den Titel des Films nennt er nicht; es war zweifellos wichtiger, für ein paar Stunden im Warmen zu sitzen. Später notiert er zwar Titel, aber kaum je, was er von den Filmen hielt. Aus »Wir machen Musik« geht er nach einer halben Stunde gelangweilt heraus. Sein Urteil über Helmut Käutners »Der Apfel ist ab« fällt etwas gnädiger aus. Sollen »Goldrausch« oder »Die besten Jahre unseres Lebens« denn wirklich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen haben? Erst jetzt, in Interviews anlässlich der Schau auf der documenta, erzählt er, wie in der Holzscheune, die auch als Kinosaal diente, »Der Schatz der Sierra Madre« lief und er zum ersten Mal das Gefühl hatte, im Kino könne doch mehr stecken. Das war 1948, als John Hustons Film gerade herausgekommen war. Die Lagerinsassen konnten brandaktuelle Filme sehen, weil die Kopien unverzüglich an die US-Truppen in Übersee verschickt wurden. In den Lagern wurden sie vorgeführt, sobald die GI s sie nicht mehr sehen wollten.
Der Tagebuchschreiber Mekas geht jedoch allenfalls aus Neugierde, auf keinen Fall aber Notwendigkeit ins Kino. Allerdings kommen er und Adolfas bereits im Sommer 1949 auf die Idee, am Aufbau der Filmindustrie in Israel mitzuwirken. Der Plan scheitert, weil sie keine Juden, sondern nur "einfache" Litauer sind und somit nicht unter die Einwanderungsquote fallen. Mekas' Notizen werden hastiger, ungeduldiger in dieser Zeit. Das Lager leert sich immer mehr. Die Notgemeinschaft löst sich auf. Im August können sich die Brüder für die Einreise in die USA registrieren, im Oktober verlassen sie Bremerhaven in Richtung New York. Und bald hat der Tagebuchschreiber auch Grund, übers Kino zu schreiben.
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