Brecht muss nicht sterben
Zu den schlechterdings unwiderlegbaren Theorien, die ich hege, gehört jene, dass ein Land wie Mexiko sich am besten in Schwarzweiß filmen lässt. Gewiss, als Kulisse von Hollywood- und Italowestern hat es sich zuweilen auch in Farbe bewährt. Und Alfonso Cuaron, Angelo Gonzaléz Innaritu und etliche ihrer Zeitgenossen würden wahrscheinlich heftig widersprechen. Aber sie drehen ihre Farbfilme mittlerweile ja auch anderswo.
Die Filmographie des großen Kameramanns Gabriel Figueroa beispielsweise, der mit Bunuel, Ford, Huston und Emilio Fernandez gearbeitet hat, weist höchstens eine Handvoll Filme auf, die er nicht in Schwarzweiß fotografiert hat. Ihr Monochrom ist schon dramatisch und lyrisch genug, um ein triftiges Kinobild des Landes zu zeichnen. Städtebewohner, der neue Film von Thomas Heise, kann ebenfalls auf Farbe verzichten. Der Regisseur hat dafür keine hochtrabende Theorie, sondern einen gescheiten Grund: Das Land ist viel zu bunt, da sähe man die Personen nicht mehr. Seine Dokumentation spielt in einem Jugendgefängnis in der Hauptstadt, und von den Figuren möchte man sich nicht so gern ablenken lassen. Es sind dieselben Kids, im selben Alter wie die Protagonisten von Bunuels und Figueroas Die Vergessenen, sagte er in der letzten Woche nach einer Vorführung des Films in der Berliner Akademie der Künste. Tatsächlich traf es sich, dass er sich an den Drehorten aufhielt und sogar gegenüber der Kirche gewohnt hat, die in den Vergessenen zu sehen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass er darüber in Ehrfurcht erstarrte.
Er ist keiner filmhistorischen Tradition oder Schule verpflichtet, sondern macht seine Filme auf eigene Rechnung. Das darf man im wirtschaftlichen wie im übertragenen Sinne verstehen. Sein Werk entsteht unabhängig von irgendeiner Filmförderung und muss sich deshalb nicht um die Erfüllung von Kategorien wie gesellschaftlicher Relevanz scheren. Es besitzt sie auch ohne das Diktat der Gremien. Wer allerdings nicht um Filmförderung ersucht, bekommt auch keine Verleihförderung. Deshalb geraten seine Filme nicht auf den konventionellen Wegen in die Kinos. Sie laufen auf Festivals (manchmal auch der Berlinale), auf Retrospektiven (jedoch eher im Ausland), werden DVD und Blu ray vertrieben (www.heise-film.de) und sind in einigen wenigen interessierten Kinos zu sehen (Städtbewohner läuft am 6. Februar im Berliner "Kino Krokodil").
Ein Autarkist wie er braucht zuverlässige Verbündete. Einer ist gerade gestorben: der Grafiker Mark Thomann, der seit Jahren seine Plakate in betont altmodischen Verfahren und in Handarbeit fertigte und auch das Buch zum Film (nebst DVD und voller dann doch farbiger Fotos) gestaltete. Wie Heise nun weitermachen will, weiß er noch nicht. Im Sommer soll es irgendwo in Prenzlauer Berg eine Ausstellung mit Thomanns Arbeiten geben (ich komme vielleicht darauf zurück); Werbung ist nicht Heises Geschäft. Er ist ohnehin kein Mann der großen Worte. Nie würde er sich dabei ertappen lassen, etwas Prätentiöses von sich zu geben. Klein ist es aber auch nicht, was er sagt. Er trägt es einfach nur in jenem Berliner Duktus vor, der den Anschein erweckt, das alles nicht ganz so wichtig zu nehmen. Ernst meint er es trotzdem. Er sagt Dinge wie "Die machen ihren Quatsch, ich mache meinen. Mal sehen, was länger hält". Und hat dabei das Nachleben seiner Kunst fest im Blick: All seine Arbeiten, auch Videofilme, werden momentan in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum auf Zelluloid kopiert, damit sie auch in einigen Hundert Jahren noch materiell Bestand haben. Er ist zum Glück kein bequemer Gesprächspartner, wie ich selbst mal bei einem Interview entdecken konnte. Matthias Dell, Filmredakteur beim "Freitag" und Mit-Herausgeber eines Buches über Heise, hatte einen guten Draht zu ihm. Führen ließ sich der Regisseur nicht. Auf Versuche, aus der Kenntnis seines Werks den neuen Film zu analysieren, ließ er sich nur begrenzt ein. Der durfte für sich stehen, was dem Interesse des Publikums natürlich entgegenkam.So einer könnte verbittert sein darüber, wie sich das Filmgeschäft und die deutsche Wirklichkeit nach der Wiedervereinigung entwickelt hat. Aber Heise kokettiert nicht mit dem Status des heroischen Außenseiters. Dazu ist er vermutlich zu sehr Pragmatiker. Er überlebt, weil er die Dinge so nimmt, wie sie kommen: mit hintergründigem, gar nicht arglosem Gleichmut. Die Projekte, die sich ergeben – in den letzten Jahren oft in Kooperation mit dem Goethe-Institut -, scheint er eher als Aufgabe, denn als Herausforderung zu begreifen. Das verschafft ihm den unschätzbaren Vorteil, ergebnisoffen an sie heranzugehen. Das war schon bei seinen Filmen über Rechtsradikale in Halle der Fall und erweist sich bei Städtebewohner als ebenso ertragreich. Das schließt keine eigene Perspektive und Position aus: Selbstverständlich ist es interessanter, wenn ein Atheist einen Film (Die Lage) über den Besuch des Papstes, damals noch Benedikt, in Deutschland dreht.
Städtebewohner ist erstaunlich. Er nähert sich seinen Protagonisten, den Insassen des Jugendgefängnisses San Fernando, vorurteilslos. Er lässt sie gewähren. Für sie ist die Haft kein Ausnahmezustand, sondern eine Etappe, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach wiederholen wird. Sie betrachten das sehr aufgeräumt. Eine besondere Normalität. Das Gefängnis nennt sich eine Gemeinschaft, Wachpersonal wie Sträflinge verrichten sozusagen gleichermaßen ihre Arbeit. Hauptsächlich kann man sie durch ihre Uniformen unterscheiden. Die Atmosphäre ist freundlich. Einmal ist von Treamwork die Rede. Natürlich stehen all diese Existenzen unter Vorbehalt, was sich nicht nur in der Bewachung beim sonntäglichen Picknick zeigt. Die strukturelle Gewalt in der Gesellschaft wird nicht verschwiegen; es ist keine Empörung zu spüren, dass hier womöglich unschuldig Verurteilte einsitzen. Heise neigt nicht zur Sentimentalität. Aber gerade ein so nüchterner, unbestechlicher Beobachter wie er hat einen Sinn für Poesie: Er erkennt Liebe, wenn er sie sieht. Es ist schön, wie er die Umarmung von Samuel und seiner Freundin filmt, die sich gegenseitig necken.
Hervorgegangen ist der Film aus einem Theaterprojekt: Auf Anregung des Goethe-Instituts studierte Heise mit den Häftlingen Passagen aus Brechts "Lesebuch für Stadtbewohner ein". Samuel liest eines der Gedichte mit schöner Ergriffenheit. Das ist keine Geste der Selbstermächtigung wie in Cäsar muss sterben von den Taviani-Brüdern, sondern besitzt eine eigene Noblesse der Anverwandlung. In Mexiko darf der Film erst in 20 Jahren gezeigt werden, um die Persönlichkeitsrechte der Protagonisten zu wahren und sie vor Repressalien und Rache zu schützen. Einigen von ihnen hat er sie gezeigt, als sie wieder auf freiem Fuß waren. Andere traf er nicht an, die saßen schon wieder in Haft. Die Gleichmut, die ich Heise eben unterstellte, war vielleicht nicht ganz die richtige Vokabel.
Kommentare
Thomas Heise
I'm presently involved in a research project on Heise's 'Stadtebewhoner' in relation to Brechtian interventions at UCLA. Any additional information the author has on the film process would be most useful. Best.
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