Blu-ray-Box: Céline Sciamma
Ein Sommer in der französischen Provinz, die Familie ist gerade umgezogen, die zehnjährige Laure gibt sich mit ihren kurzen Haaren und nüchternen Klamotten jungenhaft burschikos. Sie ist ein Tomboy, ein Wildfang, interessiert sich nicht für Mädchensachen. Noch in den Ferien lernt sie die Kinder kennen, mit denen sie bald in die Schule gehen wird, auf die Frage nach ihrem Namen behauptet sie spontan: »Mikael«. So beginnt ein aufregendes Spiel mit den Identitäten, mit Verwandlung und Verkleidung, mit den Codes des Männlichen: rotzig auf den Boden spucken, sich prügeln, den Fußball ins Tor bolzen, mit einem Mädchen flirten. Es ist ein Spagat, draußen bei den Kids ist sie Mikael, zu Hause in ihrer Familie ist sie Laure. Céline Sciamma und ihre Kamerafrau Crystel Fournier sind ganz intim dran, nehmen die wechselnden Gefühle seismografisch auf, die Aufregung beim Spiel mit dem Verbotenen, die Lust an der Verkleidung und die Angst vor Entdeckung.
Die Irrungen und Wirrungen der Pubertät sind das große Thema der französischen Filmemacherin Céline Sciamma, von ihrem Debütfilm »Water Lilies«, in dem sie die Dynamik eines Teenager-Trios auslotete, über »Tomboy« und »Mädchenbande«, in dem sie eine Gruppe schwarzer Teenager bei ihrer Identitätssuche in der Pariser Banlieue begleitete, bis hin zu ihrem neuesten Film »Petite Maman, in dem ein kleines Mädchen, Nelly, ein magisches Zeitreise-Sommerabenteuer erlebt: eine Begegnung mit der eigenen Mutter als gleichaltriges Kind. Wie wäre es, wenn man ihr auf Augenhöhe begegnen könnte? Was würde man sie fragen wollen? Was könnte man über die Traurigkeit erfahren, in die sie so oft gehüllt ist? Wie viel von der Zukunft würde man ihr verraten? Die beiden Mädchen wissen genau, welche Geheimnisse geteilt und welche lieber bewahrt werden sollen.
Auf Augenhöhe, das ist ein wichtiges Stichwort für das Verhältnis der Menschen in den Filmen von Sciamma. Dabei gibt es einen entscheidenden Bruch in der Mitte des Werks. In einem Booklet-Text von Elif Batuman wird Sciamma zitiert: »Wir waren Kollaborateure«, sagt sie. »Meine ersten drei Filme arbeiteten mit dem Kino und dem Patriarchat.« »Porträt einer jungen Frau in Flammen« ist der Film, mit dem sich der Blick verlagert und emanzipiert. Aus dem vorläufigen Gesamtwerk (zu dem auch die Drehbücher zu André Téchinés »Mit siebzehn« und dem Animationsfilm »Mein Leben als Zucchini« gehören), fällt er heraus, weil es der einzige historische Stoff ist, ein Kostümfilm mit zwei erwachsenen Frauen auf einer einsamen Insel im Jahr 1770. Und weil sich diese Frauen 90 Minuten lang frei, in einer Welt ohne Männer, bewegen. Es gibt keinen älteren Bruder, von dem ein junges Mädchen drangsaliert wird, keinen Boss, der ihr auf die Pelle rückt und keinen Freund, der zu feige ist, für seine Liebe einzustehen, wie in »Mädchenbande«, sondern nur die Aussicht auf eine arrangierte Ehe mit einem Fremden im fernen Madrid. Was es immer noch gibt, ist diese wahrhaftige Intimität, die nie voyeuristisch ist und fast dokumentarisch anmutet, obwohl sie minutiös geplant ist.
Die Filme sind sehr persönlich, sie transzendieren Erfahrungen, die Sciamma so ähnlich selbst gemacht hat: Als Kind hat sie, wie die »Water Lilies« in ihrem Debüt, Begehren zuerst als Eifersucht erlebt, und auch sie wurde, ähnlich wie Laure in »Tomboy«, manchmal für einen Jungen gehalten, was sie mal toll und mal blöd fand. Auf dem Titelbild des Booklets ähnelt die Haltung der Regisseurin der ihrer Hauptdarstellerin aus »Petite Maman«, und die Schulhefte, die Nellys Mutter im Nachlass ihrer eigenen Mutter findet, sind die von Sciamma. Die fiktive Künstlerin, die stellvertretend für viele vergessene Frauen, die im 18. Jahrhundert in Frankreich als Malerinnen Geld verdienten, ist wie sie eine Pionierin des weiblichen Blicks. Sehr zeitgemäß rücken sie beide all das ins Bild, wofür Männer seit Jahrhunderten blind sind.
VÖ: 22. Juli 2022
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