Kritik zu Ich Capitano
Matteo Garrone schildert die Flucht zweier junger Senegalesen ganz aus ihrer Perspektive: als Aufbruch in ein Abenteuer, das zur Höllenfahrt wird
Ein Vorort von Dakar, Senegal. Hier lebt Seydou (Seydou Sarr) mit seiner verwitweten Mutter (Ndeye Khadi Sylla) und seinen Schwestern in einer Hütte auf engstem Raum. Sein Cousin Moussa (Moustapha Fall) ist sein bester Freund, sie verbringen ihre Freizeit mit Fußballspielen und Musik. Und sie schuften hart, haben heimlich Geld zusammengespart. Die beiden Jungs träumen von einem Leben in Europa, wo sie als Hip-Hop-Stars groß rauskommen. Doch als Seydou bei seiner Mutter mal vortestet, was sie davon halten würde, wenn er nach Europa ginge, um für sie und die Familie Geld zu verdienen, verbietet sie es ihrem Sohn ohne Wenn und Aber. Zu viele Menschen würden auf der gefährlichen Reise sterben. Also bitten sie den Dorfschamanen, die Vorfahren um Segen für den Trip zu bitten, und tatsächlich wird er den beiden Jungs erteilt. Nachdem sie einen beträchtlichen Teil ihres Ersparten an Mittelsmänner bezahlt haben, in der falschen Annahme, damit die ganze Strecke abzudecken, sitzen sie bald in einem Bus Richtung Niger. Die Ersparnisse werden schnell weniger und die Transportoptionen mühsamer und riskanter. Als sie eng zusammengepfercht auf der Ladefläche eines Lasters durch die Wüste brettern, fällt einer der Männer vom Fahrzeug, doch die Schleuser halten nicht an. Es wird nicht das einzige Opfer auf der beschwerlichen Flucht sein. Als sie später zu Fuß die Sahara durchqueren, müssen sie eine ältere Frau zurücklassen, die zu schwach ist, um die Route zu schaffen. Eine Entscheidung, die Seydou lange verfolgen wird.
Der italienische Regisseur Matteo Garrone (»Gomorrah«) interessiert sich in »Ich Capitano« für Fluchterfahrungen abseits der bekannten Nachrichtenbilder von überfüllten Schlepperbooten im Mittelmeer. Beruhend auf den realen Erlebnissen von Geflüchteten, erzählt der Film konsequent aus der Sicht der afrikanischen Menschen. In seinem Fokus auf zwei Helden ist er eine Art Gegenstück zu Agnieszka Hollands »Green Border«, die sich für einen multiperspektivischen Plot und harten Realismus entschied. Garrones Protagonisten flüchten nicht vor Krieg oder Klimakatastrophen, es sind Jugendliche, die mit sozialen Medien aufgewachsen sind und in ihrem Streben nach Wohlstand hoffnungsvoll und naiv in ein Abenteuer aufbrechen, das lebensgefährlich wird. Das inszeniert Garrone wie eine Odyssee jugendlicher Helden, von der Leichtigkeit und Farbenpracht des Dorflebens bis zu den Schrecken im Lager in Libyen und dem unüberwindbar scheinenden Mittelmeer. Er setzt dabei narrative Konventionen ein, die Dokumentarisches mit Märchenhaftem verbinden, aber auch den Eindruck des Authentischen, der sich durch die reale Vorlage und den Dreh in Nordafrika zumindest teilweise aufgebaut hat, wieder abschwächen. In Venedig wurde Garrone dafür mit dem Regiepreis ausgezeichnet, der 2002 geborene Seydou Sarr als bester Nachwuchsdarsteller geehrt. Was sich in seinem Gesicht abspielt, ist beeindruckender als jede spektakulär eingefangene Station dieser Tour de Force.
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