Ist es leicht, jung zu sein?
Wie sich Glasnost auf das sowjetische Kino auswirkte, konnte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beinahe unverzüglich auf der Berlinale miterleben. Mit einem Mal reüssierten dort Filme, die aus dem Giftschrank befreit wurden. 1987 gewann „Das Thema“ von Gleb Panfilow, der schon acht Jahre zuvor fertig war, den Goldenen Bären. Im Jahr darauf feierte „Die Kommissarin“ von Alexander Askoldow einen um 20 Jahre verspäteten, enormen Triumph.
Mitunter kamen auch aktuelle Filme bei uns in den Verleih, beispielsweise „Die Nadel“ von Rashid Nugmanov, auf dessen Mischung aus Underground, Film Noir und Experiment ich mir seinerzeit keinen rechten Reim machen konnte. Nun lässt sich mein Eindruck überprüfen, womöglich gar revidieren. „Die Nadel“ läuft im Rahmen der Retrospektive „Tauwetter und Perestroika“, die heute Abend im Berliner Arsenal eröffnet wird. Kuratiert haben das Programm Nadezda Federova und Gary Vanisian, die der Reihe mit dem Untertitel „Jugend, Aufbruch und Widerstand im sowjetischen Kino“ einen präzisen Fokus geben. Sie zeigen Filme vor allem junger Filmemacherinnen und Filmemacher und legen zugleich Wert darauf, ein breites Spektrum der damaligen Sowjetrepubliken, von Armenien bis zur Ukraine, abzubilden. Einige Regisseure, darunter Nugmanov und Otar Iosselliani, stellen ihre Filme selbst vor. Der Reigen der Einführenden ist ohnehin hochkarätig besetzt; auch thematisch übergreifende Vorträge sollen diese zwei großen Filmepochen vergegenwärtigen.
Als treuer Leser von „Film Comment“ war ich Ende der 1980er besonders auf einen Film gespannt. Die US-Zeitschrift verfolgte sehr genau, was sich an Verwerfungen in der Kinematographie des Klassenfeindes abzeichnete. Im Juni 1987 widmete sie Glasnost ihre „Midsection“, ihren Themenschwerpunkt. Dort erfuhr ich, welch wichtigen Signale der Öffnung von dem Fünften Kongress der Union der Filmkünstler ausgingen, der im Mai des Vorjahres stattgefunden und von Gorbatschow persönlich eröffnet worden war. Weit mehr noch beeindruckte mich ein Artikel, der ein Jahr später unter der knackiger Überschrift „Rubles of the Game“ erschien. Darin ging es tatsächlich auch um Ökonomie („Glasnost works, but Perestroika hasn 't yet!“), vor allem aber um Sex. Die Verfasserin Anne Williamson war bass erstaunt, dass man in „Little Vera“ von Vasili Pichul die Titelheldin und ihren Freund beim freizügig gefilmten und überdies schweißtreibenden Beischlaf sah. So viel Erotik in einem sowjetischen Film, das mussten puritanische Naturen erst einmal verwinden! Andererseits kein Wunder, dass man vor den Kinos in Moskau und anderswo Schlange stand. Sex sells. Der Anblick der Hauptdarstellerin schlug mich in den Bann. (Gestern las ich bei Roger Ebert, dass sie pünktlich zum US-Start auch für den „Playboy“ posierte.) Ich musste indes ein, zwei Jahre warten, bis „Kleine Vera“ (der im Arsenal am Sonntag und am 22. 9. läuft) bei uns im Fernsehen lief. Eindrücklicher waren jedoch die Impressionen des tristen, schmutzigen, bedrückenden Alltags, gegen den Vera aufbegehrte. Der Name ihrer Heimatstadt sagte mir damals nichts, aber seit anderthalb Jahren hat er eine neue Bedeutung für mich: Mariupol.
Während ich in Sachen Perestroika noch einer eventuell fehlgeleiteten Witterung folgte, begegnete ich dem Tauwetterkino in sittlich gefestigterem Alter. Das Arsenal widmete ihm bereits vor etwas mehr als einem Jahrzehnt eine große Filmreihe. Die anerkannten Klassiker wie „Wenn die Kraniche ziehen“ oder „Die Ballade vom Soldaten“ kann sich das Kino heute also sparen; an „Ich bin 20 Jahre alt“ (1965) hingegen, dem Meisterwerk von Marlen Khutsiev, führt zum Glück auch diesmal kein Weg vorbei. Auch den exzentrischen „Herzlich willkommen oder Unbefugten ist der Eintritt verboten“ (1964) habe ich im damaligen Programm schon einmal gesehen, aber der passt großartig in den jetzigen Kontext: Die ungeahnt ulkige Pionierlager-Satire von Elem Klimow, dem späteren Regisseur von „Komm und sieh“, erzählt von einer gewitzten Rebellion.
Was für eine noble Maskerade es ist, unter einem repressiven Regime Kinderfilme zu drehen, führt auch Michail Kaliks „Der Sonne nach“ (1961) vor. Er bescherte dem Klima seine schönsten, poetischen Wärmegrade beschert. Für 70 Filmminuten steht da einem kleinen, unternehmungslustigen Jungen die Welt offen. Er ist überzeugt, dass er sie ganz umrunden kann, wenn er nur der Sonne folgt. So nimmt er die große Stadt spielerisch in Besitz als eine urbane Wunderkammer. Kalik vertraut sich völlig seiner Perspektive an: Er nimmt sie ernst; die zauberhaften Pastellfarben bürgen dafür. Kaliks Stern leuchtete nur kurz, aber hell im sowjetischen Kino auf. Als Jude war er unter Stalin und ab Mitte der 1960er Jahre erbitterten Anfeindungen ausgesetzt und emigrierte nach Israel.
Die Kostbarkeit der Zeit ist mithin zugleich zentrales Motiv der Filme und Bedingung ihres Entstehens. Das Tauwetter dauerte streng genommen nicht viel länger als ein Jahrzehnt: eine Periode, die so kurz war, dass dem Aufbruch schon sein vorzeitiges Ende eingeschrieben war. Gemeinhin wird Chruschtows berühmte Rede vor dem 20. Parteikongress als ihre Initialzündung betrachtet. Eine sachte Liberalisierung der Künste setzte jedoch bereits kurz nach Stalins Tod ein (der Begriff „Tauwetter“ geht auf Ilya Ehrenburgs Roman „Ottepel“ von 1954 zurück). Stalin hatte die Filmproduktion seit Ende der 1940er Jahre gedrosselt. 1951 entstanden ganze acht Filme, 1954 indes waren es bereits 45, bis zum Ende des Jahrzehnts stieg die Zahl auf über 100 an. Der Ungarn-Aufstand von 1956 bremste die Bewegung nur kurzzeitig, erst der Prager Frühling ging einher mit einer solch brutalen Konsolidierung der konservativen Kräfte, dass er ihr ein Ende setzte. Unter Breschnew fing dann der Winter an.
Das Kino feierte Abschied vom pompös verlogenen Personenkult der Stalin-Ära. Die geprägt war vom Streben nach Eindeutigkeit und der Überwindung der Ambivalenz. Gegen die Verharschung der Verhältnisse setzte das neue Kino das Wagnis der Psychologie. Selbst die „Prawda“ verlangte nach anderen Filmen: solchen, in denen es nicht mehr nur um die Einhaltung von Produktionsplänen ging, sondern auch um das Privat- und Familienleben, um die Seelenlage der Bevölkerung. Endlich konnte man auf der Leinwand Charaktere sehen, deren Liebe nicht nur der Partei oder einem Traktor galt.
Die Regisseure nahmen sich nun das Privileg des Zweifels heraus. Ihre Filme sandten atmosphärische Botschaften aus, die sich nicht ohne Weiteres zensieren ließen. Sie reflektieren einen anderen Ton, einen ungekannt freizügigeren Umgang miteinander, eine offenere Diskussionskultur. In „Ich war 20 Jahre alt“ (in seiner ursprünglichen, erst 1987 vom Regisseur rekonstruierten Fassung hieß er „Der Lenindistrikt“) findet das neue Lebensgefühl seinen furiosesten Ausdruck. Die Figuren stellen Fragen nach dem Sinn ihrer Existenz, auf welche die Generation der Väter keine Antwort weiß. Chrutschow irritierte der Film so sehr, dass er ihn im März 1963 verbieten ließ: „Die Gesellschaft kann sich nicht auf solche Menschen stützen, die keine Kämpfer oder Neuerer, sondern moralisch ungefestigt und bereits in ihrer Jugend so gealtert sind, dass sie sich den höheren Aufgaben des Lebens nicht stellen können“, wetterte er. Ein Film, der Staatsoberhäupter zu Filmkritikern werden lässt, muss schon sehr viel richtig gemacht haben.
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