Luft nach oben

Igor leidet an einer zerebralen Lähmung. Die Nabelschnur schlang sich um seinen Hals, seither fällt es ihm schwer, die Bewegungen seiner Gliedmaßen zu koordinieren. Das schränkt ihn in fast allen Lebenssituationen ein. Auf dem Lastenfahrrad jedoch, mit dem er frohgemut Biogemüse ausfährt, bewegt er sich wie ein Fisch im Wasser.

Wenn Sie sich die französische Komödie »Glück auf einer Skala von 1 bis 10« anschauen, die in dieser Woche gestartet ist, werden Sie feststellen, dass Igor (Alexandre Jollien) seine Gedanken und Worte hingegen wunderbar koordinieren kann. An ihm ist ein Philosoph verloren gegangen. Die Lektüre von Plato, Seneca und Sokrates liefert ihm reiche Nahrung. Er nennt sie seine "Papierfreunde" und kann sich in jeder Lebenslage auf ihre Sinnsprüche stützen. So weiß er, dass es keine individuellen Wahrheiten gibt, sondern nur individuelle Irrtümer. Vor allem gefällt mir jedoch, wie er die Zitate sogleich auf einen ausgeprägten Mutterwitz herunterbricht. Nach einem Missgeschick beispielsweise meint er vergnügt: "Die Stoiker sagen, man muss sich jeden Tag auf das Schlimmste gefasst machen. Das wäre dann abgehakt."

Bei einem Verkehrsunfall lernt er den Bestattungsunternehmer Louis (Bernard Campan) kennen. Dessen Beruf fasziniert ihn, er spürt, dass der sich nur mit Leidenschaft ausüben lässt. Ohnehin glaubt er mit Plato, Philosophieren heißt, sich im Sterben zu üben. In dem stillen, zuvorkommenden Mann erkennt er sogleich eine verborgene Gabe zur Freundschaft. Dieser erwehrt sich des Eindringlings in sein Leben höflich und ziemlich erfolglos. Silvia Hallensleben, die den Wohlfühlfilm in der aktuellen Ausgabe bespricht, hat seine Konventionalität enttäuscht. Ich finde, er hat das Herz am rechten Fleck.

Die Zwei bilden ein Gespann, das ich gern auf ihrer Reise von Lausanne nach Montpellier begleitet habe. Natürlich weiß der Film von Anfang an, worauf er hinaus will: Sie tun einander gut. Sie entdecken viel auf ihrem Weg; das elastische Format des Road movie bürgt dafür. Die Annäherung von Igor und Louis scheint auch dadurch beglaubigt, dass die beiden Hauptdarsteller, Co-Autoren und Co-Regisseure eng befreundet sind. Auf diese Chemie vertraut ihr Film, aber er verlässt sich nicht auf sie. Jollien ist tatsächlich Philosoph:Möglicherweise haben sie sich kennengelernt, als Campan das Hörbuch seiner „Eloge der Schwachheit“ einsprach. Später zog Campan ihn als Drehbuchberater seines Films »La face cachée“»« hinzu, der von einem Ehepaar handelt, dass sich nach Jahrzehnten der Routine neu kennenlernt. Der Optimismus ist also ein Leitmotiv ihrer Zusammenarbeit.

In »Presque« ("Fast" ist die Lebensbejahung nicht von vornherein gesetzt, ihre Belastbarkeit muss sich erst tragikomisch erweisen. Der Originaltitel spielt auf eine Dialogzeile an: "Du wirkst fast normal." Mir gefällt die Spiegelbildlichkeit der Zwei. Sie sehen aus wie Brüder und tragen ihre Halbglatzen mit heiterer Entschlossenheit. Sie finden mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen zueinander, aber es verbindet sie, Außenseiter zu sein. Um einen Bestatter macht man ja gern einen Bogen, weil er für etwas steht, mit dem man sich widerwillig auseinandersetzt. An Campan, den ich auf der Leinwand in den 1990ern als Mitglied des Komikertrios "Les Inconnus" kennenlernte, mochte ich immer seine Berührbarkeit. Er kann ein wunderbarer Zusammenspieler sein, etwa in der Ensemblekomödie »Die Herzen der Männer« und erst recht als Partner Isabelle Carrés in »Claire – Eine kurze Geschichte vom Vergessen«. In »Presque« nimmt mich seine leise, konzentrierte Zurückhaltung ein. Das Körperspiel der Zwei gewinnt eine schöne Selbstverständlichkeit. Aber wird die Komödie den "Tyrion-Lannister-Test" bestehen?

Ja, von dessen Existenz wusste ich bis vor einigen Wochen auch noch nicht. Ich erfuhr von ihm aus dem aufschlussreichen, eindrücklichen Artikel "Geteiltes Licht", den der Inklusionsaktivist Raul Aguayo-Krauthausen am 8. Mai in "Der Zeit" bzw. auf "Zeit Online" veröffentlichte. Er wirft er einen scharfen Blick auf Filme, Serien und die gesellschaftlichen Realitäten, in denen sie entstehen. Im Zuge seiner Recherchen hat Krauthausen etwa festgestellt, dass Schauspielschulen praktisch nicht darauf eingestellt sind, Aspiranten mit Behinderung aufzunehmen. Die erste Schwelle zur Repräsentation ist mithin verwehrt: Es gibt keinen Fischteich, in dem Schauspielagenturen, CasterInnen sowie FilmemacherInnen ihre Angeln auswerfen könnten.

Krauthausen vertritt eine klare Position zu einem Problem, das mich vor ein Dilemma stellt. Zwar bin ich nicht der Ansicht, dass das Kino nach den Regeln einer repräsentativen Demokratie funktionieren muss. Es gibt ein Anrecht auf Repräsentation, aber daraus lässt sich meines Erachtens keine unbedingte Verpflichtung für FilmemacherInnen herleiten. Hier stehen zwei Begriffe von Freiheit und Spielraum gegeneinander. Krauthausen ist kein absoluter Freund von Quoten, aber er beklagt die evidente Unsichtbarkeit von Behinderten. Hier ist, mit Igor gesprochen, Luft nach oben. Die Situation in Deutschland sieht auf den ersten Blick noch relativ gut aus. Im Foyer der Mai-Ausgabe dieser Zeitschrift kann man die Ergebnisse einer Untersuchung zum Thema Diversität im deutschen Film nachlesen. Die Bilanz fällt beinahe durchweg ernüchternd aus, Menschen mit Behinderung jedoch kommen auf der Leinwand immerhin annähernd (vier Prozent) so häufig vor wie in der Realität (fünf Prozent). Aber was steht hinter diesen Zahlen?

Mein erster Impuls wäre, dieser Frage nicht quantitativ, sondern künstlerisch nachzugehen. Auch Krauthausen argumentiert qualitativ. Hier kommt nun oben genannter Test ins Spiel, den ein amerikanischer Behindertenrechtsaktivist nach dem Modell des Bechdel-Tests entwickelt hat und dessen Name sich auf die Rolle bezieht, die Peter Dinklage in »Game of Thrones« spielt. Er besteht aus einem Katalog von Fragen, die Krauthausen auf drei wesentliche reduziert: Ist die Behinderung der Figur(en) ein wichtiger Aspekt der Handlung? Ist ihre Behinderung realistisch dargestellt (also nicht verniedlichend, verzerrend oder ähnliches) ? Und schließlich: Geben die Figuren ebenso viel, wie sie nehmen?

Das Drehbuch zu »Presque« wirkt, als hätten die Autoren den Test bei seiner Konstruktion stets im Hinterkopf gehabt. Das wäre chronologisch möglich – sein Erfinder Andrew Pulrang hat ihn um das Jahr 2014 herum entwickelt -, kommt mir aber unwahrscheinlich vor. Ich kann mir schwer vorstellen, dass zwei französische Filmemacher (gut, einer stammt streng genommen aus der Westschweiz) ein Buch schreiben, indem sie strikt einen Regelkatalog abhaken. Also: dreimal "Ja", mit der Einschränkung einer lässlichen Sentimentalität? Dagegen stehen der künstlerische Eigensinn und die Phantasie; in diesem Fall auch die lebensgeschichtliche Vertrautheit, die sich in ihrem Film spiegelt. Nein, »Glück auf einer Skala von 1 bis 10« ist so geworden, wie er ist, weil Alexandre Jollien und Bernard Campan ihn auf gleicher Augenhöhe gedreht haben.

 

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