Der transzendentale Popkünstler

Georg Seeßlen hat sich das Werk von Anton Corbijn angeschaut - auch seine Fotografien und Videoclips
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Wie kommt man von Depeche Mode zu Ingmar Bergman? Von Grönemeyer zu Clooney? Von der Schuld zur Gnade? Indem man dem Fotografen und Filmemacher Anton Corbijn folgt, meint Georg Seeßlen

Kann man protestantische Bilder machen? Anton Corbijn, Sohn ­eines Pfarrers und ausnahmsweise ganz ohne Trauma und Rebellion davongekommen, behauptet es jedenfalls. Der Künstler, Fotograf, Plattenhüllengestalter, Clipregisseur und Filmemacher sagt sogar, seine Bilder seien der protestantischen Ethik in Dankbarkeit verpflichtet.

Zwar begibt man sich damit in gefährliche Nähe zur Klischeezone, aber vielleicht könnte man behaupten, dem protestantischen Bild ginge es mehr um Tiefe als um Breite, mehr um Reduktion als um Fülle, mehr um das Zen­trum als um die Peripherien. Und wie in den Architekturen findet sich auch in den Bildern eine mal furchtbare, mal schöne und mal furchtbar schöne Erfahrung des leeren Raums. Corbijns Fotos zeigen Menschen direkt und unvermittelt, sie definieren sich nicht über Accessoires, Kleidung und Posen. Es sind »nackte Gesichter«. Gesichter in verschiedenen Stadien einer Passion. Einer Passion des Ausdrucks und der Gnade.

Die große Liebe des Anton Corbijn aber gehört der Musik. Als Fotograf begann er mit Musikerporträts, wobei die Spannbreite vom Rock ’n’ Roll über den Pop bis zur Klassik reicht. Seine Plattencover waren nicht vollkommen unbedeutend für den Erfolg einer Band wie U2. Er hat für Alben von Depeche Mode, von Nick Cave, aber auch James Last gearbeitet; zu seinen Porträtobjekten gehören neben den Stars der New Wave auch Frank Sinatra oder Luciano Pavarotti. Was eint diese musikalisch so unterschiedlichen Charaktere? Vielleicht ist es die Hingabe, auf jeden Fall ist es ein Mangel an Furcht vor dem Pathos. Ironie und Selbstironie jedenfalls findet man selten in den Bildern von Anton Corbijn und in der Kunst seiner Objekte, sehen wir einmal von Roxy Music ab, bei denen nie jemand herausgefunden hat, wie ernst sie es eigentlich meinten, auch bevor sich Brian Eno aufmachte, das enge Modell von Band und Song in die Ecke zu stellen.

Wenn man nach einem gemeinsamen Nenner seiner Arbeiten und eines vielfältigen Musikgeschmacks fragte, könnte man also vielleicht antworten: Pathos. Was in seiner ursprünglichen Bedeutung ja nicht nur ein rhetorisches Mittel bezeichnet, sondern die Leidenschaft und als Verb »leiden«. Corbijns Musikerporträts und die Fotografien, die um die Arbeit der Künstler kreisen, atmen den, nun ja, protestantischen Geist der Selbstermächtigung. Menschen bei Anton Corbijn sind so einzigartig in ihrer Passion wie die bei einem anderen großen protestantischen Bildermacher, bei Ingmar Bergman. Und vielleicht ist auch dies verwandt, dass aus der künstlerischen Zusammenarbeit häufig eine lange Freundschaft wird, oder, wie im Fall von Herbert Grönemeyer, sich umgekehrt aus persönlicher Freundschaft eine lange künstlerische Zusammenarbeit ergibt. Die Beziehung zwischen dem Bildermacher und seinen Objekten ist nicht nur freundlich, sondern auch gleichberechtigt. Bei Corbijn sind die Menschen Mit-Autoren ihrer Bilder (dafür sind Popmusiker natürlich besonders begabt), und dies setzt sich auch in seinen Filmen fort. Die erzählen nicht nur eine Geschichte, sondern lassen sich auch als Porträts ihrer Hauptdarsteller sehen. Vielleicht daraus entsteht, neben dem Pathos des Subjekts, eine weitere Konstante in Corbijns Arbeit. Es fehlt fast immer das Divenhafte in den Stars, der Glamour wird eher dekonstruiert; Corbijn zeigt den Menschen hinter dem Star, die Arbeit hinter der Inszenierung, den Charakter hinter der Pose. Auch das kann man protestantisch nennen.

Von den Porträts und Coverarbeiten führte der Weg zu den Musikclips. In den achtziger Jahren waren sie durchaus zu einer eigenständigen Kunst geworden. Corbijn arbeitete mit den Größen genauso wie mit eigenwilligen Leuten wie Palais Schaumburg, Art of Noise oder Henry Rollins. In der Zusammenarbeit mit Depeche Mode zum Beispiel entfaltete Corbijn etwas, was dem Genre nicht direkt inhärent scheint, nämlich eine stilistische Kontinuität, wie sie auch die Plattengestaltung bei U2 vermittelt: Es entsteht eine ikonographische Signatur der Musik, die weit über das gewöhnliche Styling und Branding hinausgeht. Immer ist das Bild möglicher Schnittpunkt einer Geschichte, nicht Endprodukt, sondern eher Ausgangspunkt der Fantasie. 

Die Grenzen dieses Genres überschritt Corbijn in Zusammenarbeit mit einem Künstler, der seinerseits Grenzen des Rockgenres zu überschreiten pflegte, Don van Vliet alias Captain Beefheart, mit dem er 1994 den Kurzfilm Some Yo Yo Stuff realisierte. Hier schon beginnt sich das Verhältnis umzukehren: Aus einem Film für die Musik wird ein Film mit Musik. 2007 folgt der erste Kinofilm, natürlich über Musik. Control erzählt die Geschichte von Ian Curtis (Sam Riley), dem charismatischen, psychisch labilen Sänger von Joy Division, der sich kurz vor der großen Amerikatournee der Band und kurz vor ihrem Durchbruch zum auch kommerziellen Erfolg das Leben nahm. Control ist definitiv ein protestantischer Film über Rock ’n’ Roll, einer, der die Suche nach Beziehung und Sinn ganz und gar vor jede Pose der Rebellion stellt. Auch hier geht Corbijn in seinen Bildern immer in die Tiefe, nicht in die Breite. Man sieht nicht mehr, man sieht genauer in seinen Filmen.

Noch ist Control sehr nahe an der früheren Arbeit von Corbijn; musikalisch geht es nicht nur um Joy Division, sondern den Entwicklungsstand jener Jahre, David ­Bowie, Kraftwerk, Iggy Pop.  

Der Thriller The American, mit dem Corbijn den Genrefilm entert, lässt sich auf ähnliche Weise lesen. George Clooney spielt einen Auftragskiller mit Namen Jack, der, nach den Regeln des Genres, seine »letzte Mission« plant und dabei selber zum Gejagten wird. Er taucht in einem Bergdorf in den Abruzzen unter; Stationen seiner Reise, die in einer verschneiten schwedischen Winterlandschaft beginnt, sind München und Rom – Städte mit den Augen des Fotografen gesehen. Dann aber, im italienischen Exil, beginnt der eher mystische Teil der Geschichte. Der sonst überaus misstrauische und einsame Mann fasst ein gewisses Vertrauen zum katholischen Pfarrer Benedetto (Paolo Bonacelli) und zu der schönen Hure Clara (Violante Placido). Diese seltsame Öffnung eines verschlossenen Menschen wird ihm indes auch zum Verhängnis. Da sind wir, halben Herzens, wieder bei den Konventionen des Genres.

Auch A Most Wanted Man ist ein Thriller, in vielem eine Fortsetzung, in vielem ein Gegenentwurf zu The American. Hier geht es nicht ums Schießen, man kann Menschen auch auf andere Weise vernichten. Aber um einen sehr einsamen, sehr gezeichneten Mann geht es auch im dritten Corbijn-Film. Und zum dritten Mal geht es um Gnade und Schuld.

The American beginnt schon mit einer langen, sehr fotografischen Einstellung auf ein Haus in der verschneiten schwedischen Provinz – ein Film der Orte und der Einstellungen. Doch dann beginnt die Handlung mit einer fürchterlichen, einer unverzeihlichen Tat: Nachdem »Jack« einen seiner Verfolger im Schnee erschossen hat, tötet er auch seine Freundin, die ihn in vollkommener Unschuld verraten würde. Wenn sich ein Protagonist mit einer solchen Tat einführt, können nur Verdammnis und Gnade seinen weiteren Weg bestimmen.

Natürlich ist es nicht ganz einfach, in einem Werk, das gerade einmal drei lange Spielfilme umfasst, die Handschrift und die Leitmotive des Regisseurs dingfest zu machen. Von den drei Helden her gesehen indes ist es naheliegend, von Menschen zu sprechen, die Schuld auf sich laden und dafür bestraft werden. Der werdende Rockstar, der seine Ehefrau betrügt und seinen Ruhm nicht verkraften kann, der Auftragskiller, der mit jedem Mord ein Stück seiner Seele verliert, der Agent, der ganz deutlich vom »Touch of Evil« gezeichnet ist, außerhalb aller Legalität arbeitet, der Menschen und Situationen manipuliert und am Ende der Manipulierteste ist – sie alle sind Repräsentanten eines sehr speziellen »transzendentalen Stils« im Kino. Corbijns Helden ist auf Erden nicht zu helfen. Und sie alle werden dafür bestraft, dass sie sich in den falschen Momenten den falschen Menschen offenbart haben.

Leichter noch ist es, die visuelle Handschrift Corbijns zu bestimmen, auch wenn er mit unterschiedlichen Kameraleuten zusammenarbeitet: Martin Ruhe in Control und The American, Benoît Delhomme in A Most Wanted Man. Immer geht es da um ein Chiaroscuro, das bis zu einem gewissen Grad auch Delhomme in A Most Wanted Man einsetzt, wenngleich er den Farben eine pastelligere Verwaschenheit, ein drückendes Hamburgisch überträgt. Dass Corbijn als Fotograf wie als Filmemacher auf eine »Entsättigung« hinarbeitet, hat zweifellos auch diskursive Bedeutung. Handlung bedeutet für ihn nicht Anreicherung, sondern Reduktion auf immer Wesentlicheres. Am Ende aller drei Filme gibt es etwas, das man als seelische Nacktheit beschreiben könnte. Nichts und niemand könnte diese Männer trösten. Die Liebe ist für den Corbijn-Helden keine Lösung.

Herbert Grönemeyer, der die Musik zu The American und  A Most Wanted Man schrieb und seit Control auch immer wieder kleine Rollen spielt (in A Most Wanted Man als Berliner Kontaktmann), ist ein weiteres Bindeglied in einer Filmarbeit, die es offenbar wie die fotografische Arbeit Corbijns auf eine gewisse Kontinuität abgesehen hat. Corbijns Filme unterhalten eine innere Verbindung, auch auf dem Gebiet der reinen Stilistik, die sich von der anderer Filmemacher unterscheidet. Es geht um die verschiedenen Annäherungen an ein konstant bleibendes Motiv. Es ist dieses protestantische Grundmotiv, dass der Mensch allein durch die Gnade, nicht durch sein Handeln, nicht durch die Hilfe einer Kirche, nicht durch seinen Mitmenschen erlöst werden kann. Dies macht die erste Szene von The American unmissverständlich klar, durch ihre Abfolge von Näherung und Distanzierung; die Einstellung auf das Gesicht Clooneys nach der Tötung seiner Freundin, die nichts anderes getan hat, als zu sehen, was sie nicht sehen durfte, ist vollkommen deutlich darin, dass er weiß, dass er die größtmögliche Schuld auf sich geladen hat.

Und ganz nebenbei macht diese Szene, die sich schließlich für die gerade richtige Zeit auf sein kurzes Innehalten konzentriert, auch deutlich, welch ein großer Schauspieler Clooney sein kann. Corbijn bleibt in seiner Arbeit als Filmemacher ein Fotograf, nicht einer, der die schönen oder gar die perfekten Bilder sucht, als vielmehr einer, der in den Gesichtern und Bewegungen forscht. Auch wenn man völlig davon absehen könnte, worum es in A Most Wanted Man eigentlich geht, wäre es ein berückender Film über ein Gesicht: das von Philip Seymour Hoffman in den verschiedensten Stadien von emotionaler Konstruktion und Dekonstruktion (ein, zwei Mal, man sollte es nicht glauben, sogar in Augenblicken des Glücks).

Man kann die Menschen in diesen Filmen in ihrer Gottesferne wie in ihrer Menschenferne verstehen. Das Interessante an diesen Figuren ist es, dass sie sehr viel um das Wesen ihrer Verlassenheit zu wissen scheinen und dies auch ausdrücken, sei es in der Musik, die wie bei Joy Division noch stets als erkaltender Schmerzensschrei klingt (darin repräsentativ für die Post-Punk-Generation), sei es durch das Töten und Jagen in The American, sei es durch Philip Seymour Hoffmans massiges Raubtierverhalten in A Most Wanted Man, in dem überhaupt kein Platz mehr scheint für ein privates – ein eigentliches – Leben, jenseits von Whiskyglas und Zigarette. Alle drei Figuren bewegen sich auf eine besondere Art von Tod hin, der weniger dem sinnstiftenden Opfer als dem Eingeständnis der Absurdität gleicht. Corbijn drängt den Augenblick der Gnade, den andere Vertreter des »transzendentalen Stils« nach Bres­son in eine signifikante Einstellung rücken, noch mehr an den Rand, beinahe über das Filmende hinaus. Sie ist vielleicht nur mehr da, weil es sonst nichts anderes gibt – wie am Ende von A Most Wanted Man, wo nichts mehr geschieht, nachdem das Spiel der Protagonisten so furchtbar gescheitert ist, die Kamera aber den Protagonisten noch eine Weile begleitet. Es ist ihre Gegenwart in diesem plotmäßig leeren Moment, die genügen muss, um zu zeigen, dass Verlassenheit nicht das letzte Wort ist.

Das weist im Übrigen bereits darauf hin, dass Corbijns filmische Botschaft sich weniger in der Makrokonstruktion der Story als in einzelnen paradigmatischen Elementen verbirgt. Die Vorlagen von Martin Booth – The American – und John Le Carré – A Most Wanted Man – liefern zwar mehr oder weniger solide Gerüste, bei Le Carré ist es zusätzlich ein politischer Grundton: Geheimdiensttätigkeit sowohl als Ergebnis als auch als Produktion von Paranoia. Aber das Wesentliche tritt erst auf der zweiten Ebene der Erzählung in Erscheinung; daher vielleicht auch die etwas enttäuschten Kritiken zu The American: Es ist ein Film, der nicht wirklich »aufgeht«, und der im letzten Drittel die Spannung, die sich in den Bildern aufgebaut hat, selbst untergräbt, indem er sich mit dem einen oder anderen oberflächlichen Klischee aus den Plotfallen befreit. Und noch einmal ganz anders lassen sich die drei Filme auch als Studien über Paranoia verstehen. Das Pop-Business ist nicht anders ein Paranoiasystem als das Gewerbe von Auftragsmord und Spionage. Die Helden der Filme von Corbijn durchwandern eine Zwischenwelt; sie betreten die Leinwand als Personen, die wissen, dass sie eigentlich schon tot sind. Sie suchen nur noch nach der richtigen Pforte. Und müssen erfahren, dass es eine solche nicht gibt.

Mit The American hat A Most Wanted Man auch gemeinsam, dass das Prinzip der zweiten Chance, das dem amerikanischen Actionfilm geradezu die Seele verleiht, einigermaßen drastisch geleugnet wird. George Clooney kann die zweite Chance im Abruzzendorf so wenig nutzen wie Philip Seymour Hoffman die seine, offensichtlich nach einem blutig verpatzten Unternehmen im Osten der Welt, in Hamburg. Auch hier sind es bereits die Orte, die dem Prinzip der zweiten Chance widersprechen, und auch dies kann wiederum durchaus theologisch gelesen werden. Die Handlung kann die Sünde nicht wiedergutmachen, weder die eigene noch die der anderen. Und daher ist das letzte Drittel von The American zwar nach den Regeln des Genres verpatzt, macht aber im Corbijn-Universum Sinn. Der Amerikaner – und das lesen wir in Corbijns protestantischer Welt eben durchaus auch politisch – ist eine mythische Gestalt, einer, der die Waffe, die ihn fällen wird, selbst schmiedet.

Corbijns Filme bislang, das kann man kritisch anmerken, sind männerzentriert. Die Frauen bleiben seltsame Projektionen, das Opfer, das Verhängnis, die Schönheit. Besonders in A Most Wanted Man bleiben, vielleicht abgesehen von Nina Hoss, die wie immer auch ihr eigenes Ding in einer schönen Nebenrolle macht, die Frauenrollen weit weniger interessant. Die Kamera ist ein wenig verliebt in sie, versagt sich aber die protestantische »Tiefe«. Was das anbelangt, war Ingmar Bergman gewiss ein paar Meilen weiter. Aber Anton Corbijn steht ja auch erst am Anfang einer Regiekarriere, die vermutlich noch ein paar Wendungen zu bieten haben wird. Auf der Suche nach dem protestantischen Bild. Vielleicht aber auch nach seiner Überwindung.

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