Alice Guy: Die erste Filmemacherin

1896 erschien Alice Guys erster Film. »La fée au choux« war als fantastischer Erzählfilm mit einer Laufzeit von einer Minute in dieser Zeit eine Sensation. Guy selbst, die am 1. Juli 150 geworden wäre, war eine wahre Pionierin des Mediums. Als Produktionsleiterin bei Gaumont trieb sie die Entwicklung des Spielfilms voran, sie schrieb, inszenierte, experimentierte mit Ton und Effekten, gründete schließlich in den USA ein eigenes Studio. Und: Sie war jenseits von Fachkreisen nahezu vergessen. Erst in den letzten Jahren geriet ihre Leistung wieder in den Fokus. Georg Seeßlen erzählt die Geschichte von Guy als eine der verdrängten Möglichkeiten, der gescheiterten Freiheit.

Für die Geschichte des frühen Films ist ein einfaches Modell gefunden worden: Das Spiel mit dem Bewegungsbild entstand aus dem Widerspruch zweier cineastischer »Tendenzen«. Der Tendenz Lumière – die Wiedergabe der Realität und ihre verbesserte Wahrnehmung. Und der Tendenz Méliès – die Zaubereien und Tricks des fantastischen Kinos. Aus dieser Urspannung des Bewegungsbildes sei dann die Geschichte der Cinematografie entstanden. Wie aber, wenn es eine dritte, eine vergessene oder verdrängte Tendenz gegeben hätte? Eine Tendenz, die man zwar begierig aufgenommen, aber nie benannt hätte, deren Geschichte und deren Codes vergessen oder verdrängt wurden, und die die Geschichte des Films komplexer und unberechenbarer gemacht hätte, als wir es gewohnt sind? Wäre dies eine Tendenz Alice Guy? 

Manchmal denkt man, Alice Guy, die erste Filmemacherin der Welt, könne selbst eine Filmfigur, eine Romanfigur, eine Figur aus einer Graphic Novel sein. Natürlich ist sie es auch geworden. Und noch eine filmhistorische Untersuchung wie die von Alison McMahan beginnt mit den Worten: »I had to invent Alice Guy before I could find her« – ich musste Alice Guy erfinden, bevor ich sie finden konnte. So vieles an ihrem Leben und an ihrer Arbeit war bemerkenswert, einiges geheimnisvoll, anderes dramatisch genug, um Fantasien daran zu entzünden. Und einige Spuren aus einem nicht alltäglichen Leben lassen sich wohl auch in das hinein verfolgen, was von ihren Filmen geblieben ist. Bei manchen Filmemacher*innen sucht man gelegentlich die Person hinter den Filmen, bei Alice Guy ist es eher umgekehrt. Man muss sich aufmachen, die Filme hinter einer faszinierenden Person zu suchen. Und wenn wir Alice Guy gefunden haben, dann können wir sie auch erfinden.

Akt Eins

Alles beginnt am Fin de Siècle, dem Ende einer alten und dem Beginn einer neuen bürgerlichen Gesellschaft. Unter den vielen Kämpfen, die da toben, ist einer der zwischen Sichtbar-Machen und Verbergen. Gustave Eiffel baut einen stählernen Turm, der weithin sichtbares Zeichen der neuen Stadt wird. Ganz oben aber hat er für sich selbst eine kleine Wohnung eingerichtet, in die fast niemand je einen Blick werfen darf. Vielleicht spielt diese geheime Wohnung auf der Spitze des Eiffelturms in unserer Geschichte eine Rolle, vielleicht auch nicht. Anton Tschechow erzählt in seiner Geschichte »Passagier erster Klasse« von einem Ingenieur und Brückenbauer, der sich bitter darüber beklagt, dass ihn, der doch wahre Meisterwerke des technischen Fortschritts geschaffen hat, niemand kennt, und keiner von seiner Person wissen will, während alle den Namen und die Erscheinung seiner Geliebten, einer mäßig begabten Provinzsängerin, kennen. Die Person und ihr Beitrag für den Fortschritt fallen stets auseinander. In die Geschichtserzählungen gelangt nur, wer das eine durch das andere darstellen kann. Vielleicht ist das der Schlüssel für die Liebesgeschichte zwischen Gustave Eiffel, dem Mann, der hinter seinem Werk verschwand, und Alice Guy, der Frau, deren Werk hinter der Biografie verschwand. Natürlich war diese Liebesgeschichte vollkommen geheim. Vielleicht ist sie aber auch eine Erfindung. Die Graphic Novel jedenfalls hält sich, was das anbelangt, dezent zurück, während die Romane von Janelle Dietrick, »Mademoiselle Alice« und »Alice & Eiffel« von der Liason schwärmen: »When a story is a good one, there is nothing to do but tell it.« 

Beginnen wir damit, dass Alice Guys frühe Jahre ziemlich abenteuerlich waren. Im Jahr 1873 leben ihre französischen Eltern Mariette und Émile in Santiago, Chile, wo sie zwei Buchhandlungen betreiben. Die Mutter kehrt für kurze Zeit nach Paris zurück, um dort ihr fünftes Kind auf die Welt zu bringen. Alice. 

Danach wird das Mädchen in die Obhut der Großmutter in der Schweiz gegeben. Erst im Alter von drei oder vier lernt sie den Rest ihrer Familie kennen. Nach kurzen Kindheitsjahren in Chile wird Alice von ihrem Vater wieder nach Frankreich gebracht, wo sie wie ihre beiden älteren Schwestern in einem Internat leben muss – mehr Gefangenschaft als Lehre. Das Familienunternehmen in Südamerika geht in einer Reihe von natürlichen und sozialen Katastrophen zugrunde, zu denen Erdbeben und Raubzüge gehören. Die Familie Guy kehrt nach Frankreich zurück, die älteren Schwestern werden so rasch als möglich verheiratet, Alice muss auf eine weniger vornehme Schule wechseln. Der kränkliche Bruder verliert nach einem Herzanfall mit 14 das Leben, auch der Vater, geschlagen und mutlos, stirbt. Alice Guy gehört zu den jungen Frauen, die am Beginn der 1890er Jahre den unerhörten Schritt aus einer bürgerlichen Welt tun. Sie tritt als Stenotypistin ins Heer der neuen Angestellten, wird Sekretärin und kommt 1894 in eine der fotografischen Firmen, in denen Kämpfe um Patente und Märkte einigermaßen rücksichtslos geführt werden. 1895 besuchen Léon Gaumont (der den Machtkampf in seiner Firma gewonnen hat) und seine Sekretärin (oder so) Alice Guy auf Einladung der Gebrüder Lumière eine Demonstration ihres Cinematografen. Alice ist begeistert und überredet Gaumont dazu, ihr eine Kamera für die Produktion zur Verfügung zu stellen. Ihre Idee ist frappant: Sie will nicht nur etwas wiedergeben, sie will etwas erzählen. 1896 entsteht »La fée aux choux«. Man wird ihn später in den Filmgeschichten als ersten von einer Frau geschriebenen und inszenierten Film bezeichnen. Ende Akt eins.

Akt Zwei 

»La fée aux choux« ist eine ziemlich krause Märchenfantasie über ein frisch vermähltes Paar, das bei einem Spaziergang über ein Kohlfeld auf einen Bauern und eine Anzahl von Puppen, aber auch ein echtes Kind trifft, das die Fee des Titels aus einem Kohlkopf zieht. Das Paar ist sichtlich beglückt über den neugeborenen Sohn. Tatsächlich behauptet die (französische) Fabel ja, dass die männlichen Kinder aus Kohlköpfen entstehen, die weiblichen indes aus Rosen. Neben der bekannten Fabel ist für Alice Guy ein Besuch im Kabinett eines gewissen Doktor Alexandre Lion in Montmartre eine Inspirationsquelle, in dem Neugeborene in Inkubatoren ausgestellt wurden. Lion hatte die Gabe, wissenschaftliche Neugier mit Schaustellertalenten zu verbinden. Nachdem er mit der Ausstellung eines Inkubators erfolgreich gewesen war, mit dem 500 Hühnereier gleichzeitig ausgebrütet werden konnten, wandte er sein System auf frühgeborene Menschenkinder an und mochte auch dies, gegen ein geringes Entgelt, der staunenden Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Zu öffentlichen Inkubatorausstellungen zu gehen, war eine Zeit lang große Mode in europäischen Städten. Die winzigen Menschen im Brutkasten waren Alice wie Puppen erschienen. Wie nachhaltig beides, die Fabel aus der Kindheit und die Begegnung mit den Kindern im Inkubator, war, lässt sich übrigens auch daran erkennen, dass Alice Guy den Stoff von »La fée aux choux« noch zweimal verfilmte, das erste Mal 1900 unter demselben Namen, das zweite Mal 1902 unter dem Titel »La sage-femme de première classe«. Um unser Assoziationsspiel vollends in Gang zu setzen: In der dritten Variante spielt Alice Guy selbst mit – nicht als die Hebamme des Titels, sondern in Männerkleidern als der Bauer. 

Man kann diese drei Filme als Märchenpoesie verstehen, man kann sie ebenso als verkappte Darstellung eines höchst persönlichen Traumas, ein psycho-poetisches Spiel mit Ängsten und Erwartungen ansehen, und zum Dritten ist es auch ein Zeitbild-Pastiche: Von der wissenschaftlichen Ausstellung der Körper über das Art-Nouveau-Plakat von Adolfo Hohenstein, das darauf hinwies und Alice Guy wohl beeindruckte, bis zum Beruf der Hebamme, die damals noch die einzig erlaubte medizinische Handlung für Frauen darstellte, und zur inneren Biografie. Ein Diskurs der fundamentalen Körperlichkeit – und ihrer Unterdrückung – war eröffnet. 

Bei der ungeheuren Anzahl von Filmen, die Alice Guy in den folgenden Jahrzehnten drehen sollte, und bei der Zufälligkeit der geretteten und der verschollenen Arbeiten ist es sicher unmöglich, eine ikonografische oder motivische Kontinuität zu behaupten. Und dennoch, so zwischen Fantasie und Dokument könnten wir die Behauptung aufstellen: Alice Guys Kino ist ein Kino der Körper. 

Die drei Lesarten für »La fée aux choux« bzw. »La sage-femme de première classe« sagen natürlich noch nichts über das eigentlich filmische Wesen des Werks aus. Der Feenauftritt selbst – eine freundlich lachende Frau in blumenbekränztem Kostüm zieht nackte Kinder aus den Kohlköpfen – ist ganz auf das Tänzerische der Szene bezogen. Geburt ohne Schmerz und Anstrengung. Ob den Zeitgenossen der imanente Schrecken bewusst war, der uns heute bei »La fée aux choux« gleich an einen der frühen Filme von David Lynch denken lässt?

Alice Guy wird von der Regisseurin zur Produzentin. Sie leitet von 1897 bis 1906 die Filmabteilung von Gaumont. Mit dem Chronophone entsteht ein frühes System zur Synchronisation von Bild und Ton. Eine Nebenlinie der Filmentwicklung, nicht ohne Macken. Alice Guy inszeniert um die 100 Filme für das Chronophone. Es gelingt ihr immer wieder, das kalte Körperinteresse der Zeitgenossen, wie es sich bei den »Inkubator-Shows« zeigt, mit einer freundlichen, satirischen »Handlung« zu verbinden; es ist das Ungeheuerliche ihrer Zeit, das sie mit einer gewissen Leichtigkeit zum Verschwinden bringt. Was man von ihren Versionen des Glöckners von Notre-Dame nach Victor Hugo oder dem ersten epischen Christusfilm wissen kann, verdient das Attribut »Frechheit«. 

Alice Guy zeigte, wie beinahe alles, was Natur, Geschichte und Kultur zu bieten haben, auch Film werden kann. Sie filmt weder Wirklichkeit noch Fantastik, sie filmt Fantasie. Genauer gesagt: Sie nähert sich cinematografisch dem Körper, der ihr und ihrer Zeit so fremd geworden ist. Sie inszeniert Störungen des bürgerlichen Körpers – und sei es durch einen Maikäfer in der Hose – oder Störungen des bürgerlichen Alltags durch Körperlichkeit. 

1906 hat Herbert Blaché als ihr Kameramann, aber auch als Verkaufsmanager für Gaumont seinen Auftritt. Vielleicht einer, der, wie sie, nie die Geborgenheit von Familie und Heimat kennenlernte. Am Weihnachtsabend des Jahres 1906 geben die beiden ihre Verlobung bekannt. Alice Guy ist 33, Herbert Blaché 24. Gustave Eiffel war zu dieser Zeit mit seinen Unternehmungen in Panama gescheitert und vergrub sich in Arbeiten über die Strömungslehre, ohne die der moderne Flugzeugbau nicht denkbar ist, und die von seinen Zeitgenossen geflissentlich übersehen wurden. Ende Akt zwei.

Akt Drei

»Les résultats du féminisme« ist eine so einfache wie aufregende Fantasie: Männer benehmen sich wie Frauen und Frauen benehmen sich wie Männer, ob es sich um erotische Annäherung oder familiäre Pflichten handelt. Offensichtlich war seinerzeit das Amüsement größer als die Empörung, gleichgültig, ob man den Film karnevalistisch-burlesk oder utopisch-kritisch sah. Natürlich war dieser Film seiner Zeit voraus. Mehr als hundert Jahre. 

Ab hier wird aus der romantischen Geschichte der frühen Filmemacherin ein Lehrstück in Sachen kapitalistischer Traumfabrik. Guy und Blaché versuchen in den USA, das Chronophone-System zu verkaufen, doch ohne Erfolg. Es folgen Jahre, in denen die beiden »PhonoScènes« in Amerika drehen. Nach der Geburt ihrer Tochter Simone und enttäuscht über die geringe Auslastung des Gaumont-Studios in Flushing, New York, gründet Alice Guy eine Produktionsfirma, in der Filme für den amerikanischen Markt entstehen: Komödien, Melodramen, Western. Mit »The Pit and the Pendulum« gehört Alice Guy auch zu den Begründern des drastischen Horrorfilms – echte Ratten im Studio, echte Angst der Darsteller. 

Es folgt eine erfolgreiche und produktive Studioarbeit. Zwei Filme – zwischen zehn und fünfzehn Minuten lang – entstehen hier pro Woche. Alice Guys Solax gehört zu den Studios mit dem größten Output an Filmen. Einen guten Teil schreibt und inszeniert sie selbst. Das Arbeitstempo funktioniert, da die Filme stets in wenigen Einstellungen gedreht werden, eher lebende Bilder, die durch Zwischentitel miteinander in Beziehung gesetzt sind, als das, was sich zur gleichen Zeit schon als »Movie« entwickelt. Stattdessen baut sie »Gleichungen« auf, wie etwa die Versuche des kleinen Mädchens in »Falling Leaves« (1912), die fallenden Blätter an die Bäume zurückzubringen, weil der Doktor gesagt hat, ihre tuberkulosekranke Schwester werde sterben, wenn die Blätter gefallen sind. Dabei trifft sie auf einen jungen Arzt, einen Bakteriologen, der das heilende Mittel gefunden hat. Wie viele von Guys kleinen Geschichten, so verbindet auch diese die Feerie aus dem Kinderglauben mit der erwachsenen Wissenschaft.

1913 entsteht Alice Guys bis dahin größte Produktion: »Dick Whittington and His Cat«, mit einem für damalige Verhältnisse sensationellen Budget von 35 000 Dollar und einer Länge von 45 Minuten. Alice Guy ist nicht nur die erste Filmregisseurin, sondern auch drauf und dran, der erste weibliche Mogul der Traumfabrik zu werden. Doch da schlägt das Persönliche mit großer Heftigkeit ins Künstlerische wie ins Geschäftliche. Ende Akt drei.

Akt Vier

»Dick Whittington and His Cat« ist wie einst »La fée aux choux« ein Rückgriff auf eine Folklorefantasie. Sie beschreibt den Aufstieg eines armen Jungen zum reichen Kaufmann und zum Bürgermeister von London. Der Schlüssel zu dieser Karriere ist seine Katze, die er an Leute übergibt, die von einer Rattenplage heimgesucht werden. Und einmal versucht Dick, seinem Elend als Küchenjunge zu entkommen, doch es sind die Glocken, die ihn zurückrufen, zur Pflicht und zu seiner Bestimmung. In früheren Zeiten pflegte man in England Dick Whittington and His Cat um die Weihnachtszeit in Schulen und Familien als Pantomime aufzuführen. Wir stellen uns vor, wie Alice Guy sich in den Stoff verliebt hat. Und tatsächlich gibt auch er ihr wieder Material für ihren Spaß an körperlicher Drastik. Einige von Guys Filmen würden heute, wären sie nicht mit der Patina der Filmgeschichte überzogen, durchaus Empörung oder Ablehnung provozieren.

Herbert Blaché verliert 1913 seinen Vertrag mit Gaumont und wird Präsident von Solax. Irgendwas scheint ihn da gestört zu haben, oder es beginnen schon da seine eher windigen Geschäfte, jedenfalls gründet er sehr bald eine eigene Produktionsfirma, die in den Solax-Studios wirkt, und verdrängt schließlich die ursprüngliche Firma. Es klappt einfach nicht, das Künstlerische vom Geschäftlichen zu trennen und ebenso wenig das Geschäftliche vom Privaten. Ein Selbstzerstörungsmechanismus ist ins System einer Bilderfabrik eingebaut worden. Was sich anbahnt, ist eine dritte Variante der Geschichte des Scheiterns eines französischen Unternehmens in fremdem Land und fremder Sprache. Natürlich sind diese drei Geschichten des Scheiterns, die von Alices Eltern in Chile, von Gustave Eiffel in Panama und von Alice Guy und Herbert Blaché in den USA, hoch individuell und auch von dummen Zufällen bestimmt. Und doch bilden sie möglicherweise eine Struktur. Das progressistische europäische Bürgertum beißt sich am Rest der Welt die Zähne aus. Die Bücher, die Bauten, die Filme verwandeln sich in babylonische Ruinen. Sie verschwinden schneller, als sie hergestellt wurden, sie scheinen das Desaster geradezu herauszufordern. 

Alice Guy und Herbert Blaché inszenieren für Blachés Unternehmen mehrere längere Filme. Die Firma wächst und erzeugt im Wachsen ihre Krisen. Das Team und die Familie zerbrechen, man bleibt im Kampf um die gemeinsamen Projekte trotzdem verbunden, irgendwie. Alice Guy inszeniert nun für andere Firmen wie Pathé, wo 1918 »The Great Adventure« entsteht. Jetzt gibt es schon ein funktionierendes Starsystem, und jetzt gibt es schon Filmkritik. Die lobt den Star – Bessie Love – und vernichtet die Regisseurin und Drehbuchautorin. 

Vielleicht finden sich in der Geschichte von der begabten Provinzschauspielerin in »The Great Adventure«, die zum Broadway will, und die erst einen echten Schaumschläger entlarven muss, bevor sie mit dem richtigen Partner einen soliden Erfolg hinlegt, wieder verkappte autobiografische Züge. Wer weiß. 

Jedenfalls: Der Bankrott der Firma ist unaufhaltsam, ebenso die Scheidung. 1922 kehrt Alice Guy mit ihren beiden Kindern nach Frankreich zurück. Dort findet sie keine neue Arbeit, und als sie wieder in die USA geht, versucht sie, mit ihren früheren Filmen als Referenz einen Auftrag zu bekommen. Aber die Filme scheinen verschwunden, nicht einmal die Library of Congress kann aushelfen, ein großes Vergessen, ein großer Verdrängungsprozess hat begonnen. Die Verdrängung der Filmpioniere durch die Oligopole des neuen Tonfilms im Allgemeinen, die Verdrängung der Regisseurin und Produzentin Alice Guy im Besonderen. Sie wird keinen Film mehr machen, sie wird nur wenige ihrer Filme wiedersehen, sie wird aus den Geschäftsunterlagen wie aus dem Gedächtnis der Branche getilgt: In Leon Gaumonts Geschichte seiner Firma kommt sie zunächst nicht vor, eine korrigierte Fassung bleibt lange unveröffentlicht. Ende Akt vier.

Akt Fünf

Für das Verschwinden der Alice Guy aus dem filmhistorischen Gedächtnis gibt es wieder die drei miteinander verwobenen Gründe. Der erste ist die spannungsreiche Biografie selbst, die in ihren vielen Erfolgen und beinahe noch mehr Katastrophen Anlass zu Spekulation mehr als zu Würdigung lieferte. Gab es ein »geheimes Leben der Alice Guy«? War sie wirklich die Geliebte von Gustave Eiffel gewesen? Hatte bei allen Erfolgen als Künstlerin und Geschäftsfrau eine unverlierbare Französischkeit verhindert, dass sie in die neue Kultur der amerikanischen Traumfabrik aufgenommen wurde? Was war eigentlich mit Ramon Navarro, diesem Inbegriff des Latin Lover, mit dem Alice Guy drehte, während Herbert Blaché sich mit jungen Schauspielerinnen vergnügte? Und wohin verschwand das Geld der Firma und der Familie? Zum Leidwesen von Krimiautor*innen gab es in der Geschichte von Alice Guy und Herbert Blaché keinen Mord. Nur schrecklich viele Krankheiten, von den Masern bis zur Spanischen Grippe. Und ein inneres Leiden, das aus Geschäftsgründen nicht nach außen dringen durfte. 

Der zweite Grund für ihr Verschwinden war die rasante Entwicklung der Filmproduktion auf dem Weg zum Oligopol von Hollywood. Filme waren Waren, die man nach Gebrauch auch wieder vernichtete. Am Anfang hatten sie noch nicht einmal Signaturen. Das Kino hatte noch kein Gedächtnis. Der dritte Grund aber war jene Amerikanisierung, die zugleich eine Maskulinisierung der Bilderfabriken war. Die Herrschaft der alten weißen Männer hatte begonnen, die beinahe ein Jahrhundert andauern sollte und aus dem Blickraum alles verbannte, was nicht weiß, nicht männlich und nicht amerikanisch war. Das war nicht nur das Werk dieser alten Männer in den Studios selbst, es war das Wesen der neuen Gesellschaft. 1912 hatte Alice Guy bei A Fool and His Money entgegen der Blackfacing-Gewohnheit mit schwarzen Schauspielern gearbeitet. Auch dies einer der »Verstöße«, die sie schließlich den Beruf kostete.

Ihr Credo, ihre »Tendenz«, alles vor der Kamera müsse »natürlich« sein, musste früher oder später in Widerspruch mit den Markt- und Machtstrukturen geraten. Mit dem kommerziellen und kulturellen Aufstieg des Films wuchs auch das Ego der Beteiligten ins Monströse oder Besessene (Muller und Bouquet zeigen es anhand einer Begegnung mit Charlie Chaplin), und Alice Guy hatte es wohl verabsäumt, sich selbst zu einem Markenzeichen zu machen.

Vor den Weltkriegen hatte das europäische Bürgertum vielfältige Möglichkeiten in sich, gute und ziemlich miese, wie sich zeigen sollte. Und danach … Stellen wir eine These auf: Die Filme von Alice Guy mussten wegen ihrer Körperlichkeit und ihrer Offenheit gegenüber dem Nichtweißen und Nichtmännlichen zum Verschwinden gebracht werden. Nicht nur die Frau und die Fremde, sondern eine Tendenz des Cinematografen wurde verbannt. Und dieser Vorgang wird mit der Einführung des Tonfilms abgeschlossen. Der Stummfilm, das war noch ein migrantisches Ding gewesen, der Tonfilm, das war ein nationales Ding. Nicht nur, was die Sprache anbelangt. Zur Ironie ihres Scheiterns gehört es, dass ausgerechnet Alice Guy, die mit dem Phonographen einen Weg zum Tonfilm gewiesen hatte, aus den talking pictures verbannt wurde. 

1947 beginnt Alice Guy in Washington die Arbeit an ihren Memoiren, die allerdings erst 1976, acht Jahre nach ihrem Tod, publiziert werden. Dass sich so lange kein Verlag dafür findet, erscheint wie eine Fortsetzung der Verbannung. Sie sind voll von Auslassungen und Andeutungen, wie es so ist mit den Memoiren. Mittlerweile wird ihre Arbeit zumindest in Cineastenkreisen und unter Studenten und Studentinnen wiederentdeckt. Louis Gaumont, der Sohn von Leon, hält 1954 in Paris eine Rede zu Ehren von »Madame Alice Guy-Blaché, der ersten Filmemacherin«. Sie wird in die Filmgeschichten von Georges Sadoul und Jean Mitry aufgenommen und 1955 in die Ehrenlegion. Ein Happy End? 

Alice Guy ist nun selbst ein Bild geworden, jene Frau mit dem Fin-de-Siècle-Kostüm, komplett mit Pelzbesatz und hochgesteckten Haaren, die ihre kindliche Freude an der Handhabung eines fotografischen Apparates hat.

Dieses »naive« Bild wird in den Dokumentarfilmen und nicht weniger in dem Comic von Catel Muller und José-Louis Bocquet verdichtet: Alice Guy ist die Frau, die Filme aus Freude macht, ganz direkt. Natürlich steckt in dieser Ikonografie auch ein Haken. Sie ist ins Bild des neugierig spielenden ewigen „Mädchens“ gebannt, und nicht weniger erscheint sie auf ein bestimmtes Zeitbild fixiert. Dass so viele ihrer Filme eine traditionelle bürgerliche Familie (und das Mädchen darin, das so oft zur wahren Heldin wird) zeigen, bis in die Dekorationen hinein Sinnbilder einer Stabilität, die sie selbst stets vermissen musste, ummantelt unser Bild noch einmal mit wohliger Nostalgie. Aus der Stummfilmzeit sind uns die Slapstickhelden am meisten im Gedächtnis, die Partei für die Underdogs, Immigranten, Tramps, Proletarier, Kindmänner ergreifen, die ihre angestauten Emotionen in Verfolgungsjagden und Tortenschlachten ausleben. Alice Guy ergreift Partei für das bürgerliche Mädchen – der Übergang zur Frau erscheint stets prekär –, das freilich seinen familiären und sozialen Bindungen spielend entkommen kann. Wie in „Heroine“, wo die kleine Heldin den Polizisten hilft, Gauner zu finden oder Trunkenbolde davor bewahrt, von einem Zug überfahren zu werden, ist sie eher Helferin als Unruhestifterin. Alice Guys Film sind so weit entfernt von der Aggression des Slapsticks wie vom Overacting des Stummfilm-Melodrams. Ihr Ideal ist die Natürlichkeit des Spiels. Man kann diesen Wunsch nach Natürlichkeit in Alice Guys Jugend projizieren, vielleicht als Reaktion auf die strengen Regelungen und Formalismen, denen sie ausgesetzt war. 

Es ist hübsch, die Geschichte von Alice Guy in immer neuen Variationen erzählt zu bekommen, und die Graphic Novel ist besonders hübsch, weil sie auf ihrem Bildwert beharrt. Ein Strukturelement bilden dabei die detailgenauen Architekturzeichnungen, die die einzelnen Episoden in Guys Leben einleiten: Das Leben und seine Häuser (bis zum Krankenhaus, in dem die letzten Tage versinken). Die Menschen sind freundlich vereinfacht, ohne zu Karikaturen zu werden, in allem herrscht eine große Sympathie. Selbst als sie am Ende, nachdem sie so lange versuchte, sich dem Vergessenwerden entgegenzustellen, selbst das Gedächtnis verliert, erscheint Alice Guy als freundliche alte Dame, die vielleicht ihre Vergangenheit, aber nicht ihre guten Manieren vergessen hat. 

Das macht: Wir haben uns Alice Guy als Ideal erfunden. So als könnten wir mit ihrer Hilfe einige der Dämonen aus der Filmgeschichte vertreiben. Getragen wird diese Fantasie von einer seltsamen Rückkopplung. Die bürgerliche Gesellschaft der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war in gewisser Weise freier, weiblicher, jedenfalls offener, als es die bürgerliche Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts war. Es hätte ganz anders weitergehen können, vielleicht, und möglicherweise wurden die Weltkriege nicht nur um Macht und Märkte geführt, sondern auch gegen die Möglichkeiten der Befreiungen. Diesen Glanz der Befreiung trägt die von uns erfundene Alice Guy in sich. 

Die geheime Wohnung an der Spitze des Eiffelturms ist zu einem blinden Fleck geschrumpft. Weder kann man von hier Touristen und Manager abwehren, noch über die Stadt und die Welt hinausblicken. Geheime Geschichten wandern ins Fernsehen und auf Instagram aus. Es ist eine große Blindheit über uns gekommen, und unsere Filme erzählen nicht mehr von Befreiungen und Möglichkeiten, nur noch von Alpträumen und Fluchten. »Es gibt nichts im Zusammenhang mit der Inszenierung eines Films, was eine Frau nicht ebenso leicht wie ein Mann machen könnte«, das hat Alice Guy vor rund hundertzwanzig Jahren gesagt. Es ist immer noch keine Selbstverständlichkeit. Im Film und im Rest der Wirklichkeit. Was ist bloß los mit uns? Ende 

Zum Lesen 

Die Autobiografie
Alice Guy: Mémoires (Vorwort von Martin Scorsese) Paris 2018
Dt. Alice Guy: Autobiographie einer Filmpionierin. 1873–1968. Münster 1981
Monografien
Victor Bachy: Alice Guy-Blaché (1873–1968). La première femme cinéaste du monde. Perpignan 1993
Amelie Hastie: Circuits of Memory and History: The Memoirs of Alice Guy-Blache. In: Jennifer M. Bean, Diane Negra (Hrsg.): A Feminist Reader in Early Cinema. Durham 2002, S. 29–59
Alison McMahan: Alice Guy Blaché. Lost Visionary of the Cinema. Continuum, New York u. a. 2002
Joan Simon (Hrsg.): Alice Guy Blache: Cinema Pioneer. New Haven 2009
Laurent Mannoni, Maurice Gianati (Hrsg.): Alice Guy, Léon Gaumont et les débuts du film sonore. New Barnet 2012
Emanuelle Gaume: Alice Guy, la première femme cinéaste de l’histoire. Paris 2015
Melody Bridges, Cheryl Robson (Hrsg.): Silent Women: Pioneers of Cinema.Twickenham 2016
Alejandra Val Cubero: Vida de Alice Guy Blaché. Madrid 2016
Caroline Rainette: Alice. Mademoiselle Cinéma. Paris 2021
Romane und Graphic Novel
Janelle Dietrick: Alice & Eiffel: A New History of Early Cinema and the Love Story Kept Secret for a Century. Ebook Bookbaby 2016
Janelle Dietrick: Mademoiselle Alice. A Novel. (Ebook Paradis Perdu Press 2023
Céline Zufferey: Nitrate. Paris 2023
José-Louis Bocquet (Autor), Catel Muller (Zeichner): Alice Guy. Paris 2021
dt.José-Louis Bocquet (Autor), Catel Muller (Zeichner): Alice Guy. Bielefeld 2023

Zum Sehen

Die meisten der zugänglichen Filme von Alice Guy sind auf YouTube zu sehen. 
In etlichen Kompilationen auf DVD sind Guy-Filme enthalten:
More Treasures from American Film Archives 1894-1931. National Film Preservation Foundation, San Francisco 2004 
Gaumont – Le cinéma premier, Volume 1: 1897–1913: Alice Guy – Louis Feuillade – Léonce Perret. Gaumont Vidéo, Neuilly-sur-Seine 2008 
Early Women Filmmakers: An International Anthology. Flicker Alley, Los Angeles 2017
Dokumentationen
»Alice Guy-Blaché (1873–1968) – Hommage an die erste Filmemacherin der Welt«. 1997 (Regie: Katja Raganelli)
»Elle voulait faire du cinéma« (Weg der Besessenheit). 1982 (Regie: Caroline Huppert)
»Le jardin oublié: La vie et l’œuvre d’Alice Guy-Blaché« (Der verlorene Garten: Das Leben und das Werk von Alice Guy-Blaché). 1995 (Regie: Marquise Lepage)
»Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché« (Be Natural – Sei du selbst) .2018 (Regie: Pamela Green)
»Alice Guy, die vergessene Filmpionierin«. 2021 (Regie: Valérie Urrea, Nathalie Masduraud)

Meinung zum Thema

Kommentare

Bei den Kompilationen sollte man nicht die Edition des Filmmuseums München vergessen, die auch den Film von Katja Raganelli enthält: https://www.edition-filmmuseum.com/product_info.php/info/p198_Alice-Guy-Blach-.html

Danke Georg Seeßlen für diesen klugen und vielschchtigen Artikel! Ich schätze Ihre Beiträge SEHR!

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