Kritik zu Brownian Movement
Zufallsbewegungen des weiblichen Begehrens: Im neuen Film der holländischen Regisseurin Nanouk Leopold (Guernsey, Wolfsbergen) spielt Sandra Hüller eine Ärztin mit Verlangen nach Abwegen
Im tiefsten Schlamassel bemerkt Charlotte (Sandra Hüller), die Protagonistin in Brownian Movement, mit feinem Lächeln: »Ich sollte nicht alles sagen.« Der schillernde Satz fällt in einer klassischen Psychotherapiesituation, doch alle visuellen und kompositorischen Elemente der merkwürdigen Ehebruchsgeschichte, die der Film erzählt, setzen die gängigen Genremuster außer Kraft. Die holländische Autorin und Regisseurin Nanouk Leopold dekonstruiert die bekannten Narrative der schuldhaften Sexualität. Sie stellt implizit Fragen nach dem Geheimnis der Identität, ohne ihre Grenzgängerin dem Verdikt pathologischer Abweichung auszusetzen.
Sprachlosigkeit ist in der minimalistischen Bildwelt ihres Films nicht als Defizit dargestellt, sie ist vielmehr ein Schlüssel zu Blicken hinter die Fassade eines modernen Lebensentwurfs, in dem Sex und Liebe vorgeblich identisch sind und »über alles« gesprochen werden kann.
In Analogien zur Physik sucht der Film nach einem komplexeren Ausdruck, einem Vexierbild des weiblichen Begehrens, als es die Klischees des psychologischen Kinos bieten. Brownian Movement bezeichnet ein Phänomen, das der britische Botaniker Thomas Brown am Beispiel von Blütenpollen entdeckte und Albert Einstein für die theoretische Physik untersuchte. Es betrifft die Zufallsbewegungen von kleinsten organischen Teilchen in Flüssigkeit oder Gas. Wie damit weiterleben, dass vergleichbar unwägbare Zufallsbewegungen auch im musterhaft neobürgerlichen Leben Charlottes aufscheinen? – Dies ist die metaphorische Ausgangsfrage des Drehbuchs, das konsequent die Stereotypen des großen Dramas für unangemessen erklärt.
Charlotte lebt als glückliche Mutter eines zehnjährigen Sohnes, begehrte Ehefrau ihres Mannes Max (Dragan Bakema) und Ärztin in in der cleanen Welt der Medikamentenforschung in Brüssel. Sie sucht sich ein hermetisches Paralleluniversum, eine möblierte Wohnung, in der sie sich zu schweigsamen sexuellen Zeremonien mit Männern trifft, die sie als Probanden bei ihren Laborstudien kennengelernt hat.
In drei Kapiteln, jeweils durch Bilder der leeren, sparsam möblierten Schauplätze und eine wunderbar irreale serielle Musik eingeleitet, entfalten sich Charlottes bizarre Experimente mit den fremden Körpern, stürzen die Folgen ihrer Entdeckung auf sie ein. Das Andere, das ein dicker, behaarter, alter, narbiger oder grob in Besitz nehmender männlicher Körper ausstrahlt, erscheint wie eine Traumerfahrung. Die Männer blieben in den Szenen ritueller Konzentriertheit meist ohne Gesicht, ihre und Charlottes Körperlichkeit wirkt wie aus Aktstudien der bildenden Kunst entlehnt.
In langen Einstellungen und festen Cadragen werden die Schauplätze fremd, widersetzen sich der Inbesitznahme als Seelenlandschaften. Die tranceartige Zeitstruktur schafft ein Fluidum, als beobachte man ein Aquarium, in dessen surrealer Schönheit die gewöhnlichen Maßstäbe verschwimmen.
Als Charlotte im Alltag von einem der Männer wiedererkannt wird, schlägt sie ihn zusammen und kollabiert. Alles wird öffentlich, sie verliert ihre Approbation. Doch während das soziale Tabu den Sex mit ihren Probanden ahndet, zerbricht die private Sphäre, die Liebe des Ehepaars Charlotte und Max nicht. Oder doch? Wenn beide in Naheinstellungen in ihrem Bett oder bei der Psychiaterin zu sehen sind, verschwimmen die Räume um sie her.
Im letzten Kapitel lebt die Familie – Charlotte ist wieder Mutter geworden – im indischen Ahmedabad, wo Max mit der Restaurierung von Le-Corbusier-Bauten beschäftigt ist. Deren Diagonalstrukturen, Rundformen und schattigen Hohlräume werden so etwas wie ein neues erotisches Objekt der träumend driftenden Frau. Dragan Bakema in der Rolle des Max bleibt gegen Sandra Hüllers subtile Besessenheit wenig Raum zur Entfaltung gewährt, man muss seine Haltung avantgardistischer Liebesfähigkeit und weiser Toleranz wie eine Wunschprojektion nachvollziehen. Eines Tages macht Max sich auf, seine Frau zu suchen und findet sie schließlich in einem jener beinahe organisch-körperlich wirkenden Gebäude. Die »Zufallsbewegungen der atomaren Teilchen« ihrer Liebe bleiben risikoreich lebendig – was etwas anderes bedeutet als das klassische Happy End.
Kommentare
Unendlich traurig
Das Driften durch den Zufall und die Suche nach Differenz und Grenzen in den „ganz anderen“ Männern ist alles, was der zutiefst gestörten Hysterikerin übrigbleibt, da sie keine Grenzen in sich selbst erlebt und besitzt. Ein tief trauriger und hoffnungsloser Film - alles andere als ein Happy End - das ist ein Ende mit noch unbekannten Schrecken - vor allem für die Kinder einer in Gedanken beständig abwesenden Mutter. Exzellent geschrieben und dargestellt!
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