Eine Demokratie geht durch die Hölle

Die Verrohung der politischen Sitten schreitet immer rascher voran. Bis zum Freitagabend letzter Woche wurden 112 hier zu Lande tätliche Angriffe auf Politikerinnen und Politiker seit Beginn des Jahres gezählt. Mit der Attacke auf den Europaabgeordneten Mathias Ecke hat die demokratiefeindliche Gewalt nicht unbedingt eine neue Dimension, auf jeden Fall aber größere Aufmerksamkeit erlangt.

Der SPD-Politiker, der erneut für einen Sitz im Europäischen Parlament kandidiert, wurde in seinem Wahlreis Dresden von vier Vermummten überfallen, als er Wahlplakate aufhing. Mich hat übrigens beeindruckt, dass der Abgeordnete das selber machte und nicht seinem Wahlkampfteam überließ. Seither sind noch eine Reihe ähnlicher Straftaten in die Statistik eingegangen, darunter der Angriff auf eine Stadtratskandidatin der Grünen, die in der selben Nacht und der selben Straße ebenfalls plakatieren wollte. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger der sächsischen Hauptstadt gingen spontan auf die Straße, um gegen diese Schmähung der Demokratie zu demonstrieren. Mittlerweile wird vielfach die Forderung laut, Wahlkämpfende unter Polizeischutz zu stellen.

Die "Berliner Zeitung" sprach angesichts der zunehmenden Enthemmung von "amerikanischen Verhältnissen". Tatsächlich sind uns die USA in dieser Hinsicht noch ein paar Schritte voraus. Dort sind es die Wahlkämpfer selbst, die zu Gewalt aufrufen. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, dass Donald Trump für den Ausgang der Präsidentschaftswahl Szenarien der Gewalt nicht nur in Aussicht stellt, sondern nachgerade androht: Im Fall seiner Niederlage müsse man eben für das Recht des Landes kämpfen. Seine Parteigenossin Kari Lake empfiehlt ihren Anhängern bei öffentlichen Auftritten unverhohlen, sich zu bewaffnen. Die Republikanerin ist eine glühende Verfechterin der "Big Lie", der Mär von der gestohlenen Wahl 2020. und ihr ist der 2. Verfassungszusatz heilig. Als die Senatskandidatin für Arizona während einer Rede versprach, sie selbst werde sich vorsichtshalber ihre Glock umschnallen, erntete sie lautstarke Zustimmung. Ob die forsche Propagandistin den Amtssitz in Phoenix tatsächlich mit Hilfe des Selbstladers einnimmt, wird sich im November zeigen.

Streicht man einen Vokal aus dem Namen der Hauptstadt von Arizona, landet man umgehend bei einem Menetekel für die Brutalisierung amerikanischer Wahlkampagnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich das Städtchen Phenix City im Bundesstaat Alabama fest im Klammergriff eines Verbrechersyndikats. Es errichtete eine Diktatur der Sittenlosigkeit. Von freien Wahlen konnte keine Rede sein. Diese Schreckensherrschaft hatte Tradition, schon die Großeltern der 25000 Einwohner hielten es für aussichtslos, sich zu wehren. In »The Phenix City Story« (Eine Stadt geht durch die Hölle) erzählt Phil Karlson 1955 in semi-dokumentarischem Stil, wie die Macht der „Maschine“, so nannte der Volksmund das Verbrecherregime, gebrochen werden konnte. Wiederum ist es also ein Film noir, der Auskunft geben kann über aktuelle politische Verhältnisse in den USA. Und wiederum ist der progressive Drehbuchautor Daniel Mainwaring, den ich im Eintrag "Alternative Lügen" vom 13.3. vollmundig zu einem Propheten der Erstürmung des Capitols erklärte, an diesem aufklärerischen Exposé beteiligt. Pessimismus als Wahrsagerei, das funktioniert viel zu oft.

»The Phenix City Story« ist ein ruppiger Krimi, der sich ständig selbst reflektiert. Sein Schauplatzrealismus ist ein nicht nur oberflächliches Instrument erzählerischer Verwurzelung. Er strahlt eine immense Unmittelbarkeit aus. Die Ereignisse, die er verhandelt, liegen nicht lange zurück. Das Drehbuch nimmt sich, abgesehen von einigen Zuspitzungen, anscheinend wenige Freiheiten heraus. Etliche Bewohner spielen sich selbst.

Der Fassung, die ich sah (in einer amerikanischen Noir-Box), ist ein Prolog vorangestellt, in der der TV-Reporter Clete Roberts einige Betroffene interviewt, darunter die Witwe eines Protagonisten des zivilen Widerstands. Dieser Prolog ist ein schockierendes, zuweilen auch ulkiges Zeitdokument, denn die fernsehungeübten Gesprächspartner müssen ständig daran erinnert werden, in die Kamera zu blicken. Danach gibt es nichts mehr zu lachen. So einen puritanischen Film wie »The Phenix City Story« habe ich selten gesehen: Er handelt davon, wie man einen Morast aus Sünde und Verworfenheit trockenlegt.

Das Geschäftsfeld der Herren der Stadt sind "fancy women, slot machines and booze". Sie verdienen an der Verführbarkeit der Einwohner und der Soldaten, die nebenan in Fort Benning stationiert sind. Das Zentrum dieses Sündenpfuhls ist die 14th Street. Die anständigen Bürger schauen in die andere Richtung, man kennt einander allerdings auch schon seit Kinderzeiten. Edward Andrews spielt den Anführer der bösen Clubbesitzer mit dick aufgetragener Volkstümlichkeit. Der von John McIntire gespielte Anwalt Patterson hält sich heraus. Das Komitee aufrechter Bürger kann nicht mit ihm rechnen. Das gilt vorerst auch für seinen Sohn (Richard Kiley), den zwar der Himmel schickt – er kommt mit dem Flugzeug aus Europa an, wo er Kriegsverbrecher angeklagt hat -, der keine aber Lust auf einen weiteren Krieg hat. Doch wie hieß es bei der Lola-Verleihung in der letzten Woche vorwurfsvoll: Schweigen ist politisch. Die Pattersons können ihrer Bestimmung nicht entkommen, nachdem Freunde und Nachbarn heimtückisch ermordet wurden. Sie besinnen sich darauf, Vertreter des Rechts zu sein. Es geht um ihre Heimatstadt, die sich in "Sin City, USA" verwandelt hat. Der Senior kandidiert für das Amt des Staatsanwalts von Alabama.

Nun wiederholt sich in reischerischem Duktus, was der Prolog dokumentarisch verbürgte. Ein lokaler Bürgerkrieg bricht aus. Die Glock wurde erst 25 Jahre später entwickelt, aber die Gangster sind bedrohlich genug. Pattersons Parteigänger werden beim Gang zur Wahlurne massiv eingeschüchtert. Drohanrufe sind an der Tagesordnung, auf das Haus eines Lehrers wird ein Sprengstoffanschlag verübt. Patterson gewinnt dennoch, denn der ehrenwerte Staat von Alabama besteht ja noch aus anderen Wahlkreisen. The ballot over the bullet? Vorerst nicht, denn Patterson bezahlt den Sieg mit dem Leben. Sein Sohn übernimmt die Stafette. Ein Schwarzer, dessen kleine Tochter meuchlings ermordet wurde und deren Leiche als Drohung vor seiner Haustür abgeliefert wurde (eine der wenigen Hinzuerfindungen des Drehbuchs), hält ihn davon ab, Blutrache zu nehmen. Eine puritanische Entfesselung findet dennoch statt. Hier ahnt man, dass der Film mit sich ringt. Mainwaring hatte zweifellos heftig Auseinandersetzungen mit seinem Regisseur, der zwei Jahrzehnte später mit »Walking Tall« (Der Große aus dem Dunkel) eine Apologie der Selbstjustiz drehte. Kiley tritt dem "guten Mob" gegenüber und beschwört ihn, dass die Zeiten des Vigilantentums vorüber sind. Er ist ein flammender Demagoge. Wie es ihm gelingt, umstandslos das Mandat des Vaters zu übernehmen, bleibt ein Geheimnis des Drehbuchs, das sich gewiss in den Annalen der Staatsanwaltschaft Alabamas auflösen lässt. Über Phenix City wird das Kriegsrecht verhängt (Fort Benning ist doch für etwas gut), die Tempel der Sünde verwandeln sich in Scheiterhaufen. Am Ende adressiert der frischgebackene Staatsanwalt Kiley das Publikum direkt: Es gibt noch viel zu tun, aber mit Gottes Hilfe wird es gelingen. Manche Warnungen kommen früh und doch zu spät.

 

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