Eine Vergangenheit, die nicht vorüber ist
"Wir Armenier machen uns keine Sorgen um die Zukunft, sondern um die Vergangenheit" lautet ein Sprichwort, das ich in Katerina Poladjans Roman "Hier sind Löwen“ entdeckte. Es passt ganz wunderbar zu einer Filmreihe, die den Titel "Wir sind unsere Erinnerung" trägt und vom 1. bis 9. 12. im Sinema Transtopia im Berliner Wedding läuft (https://sinematranstopia.com/de/program/film-series/we-are-our-memory).
Sie kommt ohne die naheliegenden Filme Atom Egoyans aus und stellt dafür unbekanntere Filmemacherinnen wie Gariné Torossian vor. Über die Entstehung der Reihe sprach ich mit dem Kurator Gary Vanisian. Sein Name dürfte regelmäßigen Lesern dieses Blogs vertraut sein dank der spannenden Programme, die er mit dem Filmkollektiv Frankfurt und anderswo konzipiert; zuletzt ( "Ist es leicht, jung zu sein?" vom 1. September) beschäftigte mich seine Retrospektive über Tauwetter und Perestroika. Los geht’s.
GM: Die Filmreihe trägt den Untertitel „Der Genozid als Vergangenheit und Gegenwart im transnationalen armenischen Kino 1915 - 2023“. Ist mit "transnational" ausschließlich die Diaspora gemeint?
GV: Ja. Wir zeigen nicht nur Filme, die in Armenien, sondern über die ganze Welt verstreut entstanden sind. Ursprünglich hatten wir überlegt, auch Arbeiten zu zeigen, die nicht aus einer armenischen Position entstanden sind, beispielsweise von deutschen oder schweizerischen Filmemachern. Aber es ist eine kleine Reihe, in der wir uns auf die Frage konzentrieren wollten, was Filme von Armeniern thematisch und ästhetisch weltweit verbindet. Die inhaltliche Verbindung ist natürlich die Auseinandersetzung mit dem Aghet, dem Genozid. Aber mich beschäftigte auch die Frage, ob es filmsprachliche Ähnlichkeiten gibt.
GM: Worin bestehen sie?
GV: Ein offenkundiges gemeinsames Element findet sich auf der Tonspur der Filme: die Duduk, ein aus Aprikosenholz gefertigtes Blasinstrument, das eigentümlich wehmütige, traurige Laute hervorbringt. Omnipräsent ist auch eine gewisse Symbolik, beispielsweise die des Granatapfels. Das mag etwas klischeehaft wirken, aber es ist eben doch ein gültiges Symbol des Landes. Vielleicht entdecke ich noch mehr, wenn ich alle Filme jetzt noch einmal im Zusammenhang wiedergesehen habe.
GM: In deinem Einführungstext bezeichnest Du den Völkermord von 1915 als den tragisch-identitätsstiftenden Moment. Opfer zu sein, ist eine Zuschreibung, die heute ganz allgemein meist zurückgewiesen wird. Kaum jemand will sich noch so definieren.
GV: Meine eigene Identität wird heute an sich kaum dadurch bestimmt. Und in den Filmen geht es ja auch oft um den Überlebenswillen der Armenier, über ihre Kraft. Es existiert ein vitales Selbstbewusstsein, das sich nicht durch die Opferrolle definiert. Aber weltweit gibt es fast keine armenische Familie, deren Vorfahren nicht vom Genozid betroffen waren. Und das Leid setzt sich darin fort, dass es so wenig wahrgenommen und thematisiert wird. Die Erinnerung an den Genozid war lange Zeit historisch verschüttet, weil er verschwiegen wurde. Bereits zwischen 1894 und 1896 gab es in der Türkei ein Massaker an den Armeniern, bei dem 300000 Menschen auf furchtbarste, archaische Weise getötet wurden. Eine amerikanische Zeitung nannte das bereits "The Armenian Holocaust".
Gestern sprach ich mit einem Gast unserer Reihe, Ani Menua, einer Autorin und Journalistin, über die Frage, welche Rolle die Erinnerung in ihrer Familie gespielt hat. Sie erwähnte Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh" als eines der wenigen Bücher überhaupt, die lange Zeit zugänglich waren. In bestimmten Ländern darf man den Völkermord ja noch heute nicht als solchen bezeichnen. In Köln hat eine armenische Gemeinde ein Denkmal errichtet, dass an 1915 erinnern soll. Nach vehementen türkischen Protesten wird nun überlegt, ob es nicht in ein Denkmal für Genozide und Vertreibungen allgemein umgewidmet wird. Es gibt fanatische Gruppen, die das Gedenken nicht zulassen wollen.
GM: Das Leid besteht also auch darin, dass es außerhalb der Gemeinschaft nicht geteilt werden kann. Du bringst in deiner Einführung den Begriff der post memory ins Spiel, bei der die traumatischen Erfahrung von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird.
GV: Er stammt von Marianne Hirsch und bezieht sich eigentlich auf die Shoah. Es gibt in der Menschheitsgeschichte bestimmte Verbrechen, die so krass, so entsetzlich sind, dass man nicht mit ihnen abschließen kann.
GM: Ein zentrales Motiv ist die Zerrissenheit, die durch die Familien geht. Das ist ein privates und intimes Thema. Wie gehen die Beispiele der Filmreihe damit um?
GV: Einige wagen den Spagat, private Biographien so zu erzählen, dass sie für ein breiteres Publikum interessant sind. Ein recht bekannter Film ist „Nahapet“ von Henrik Malyan, der 1977 in einer Nebensektion in Cannes lief. Da ist das Motiv der Trauer eher abstrakt gehalten. Seine Bildsprache ist sehr lyrisch, er kommt ohne viel Dialog aus und funktioniert deshalb auch in anderen Ländern. Von Malyan stammt auch "Wir sind unsere Berge" aus dem Jahr 1969, der ein geradezu ikonischer Film ist. Er fungiert ein wenig als comic relief in unserem Programm, denn er steckt voll armenischem Humor. Es gibt darin Dialogpassagen, die noch heute von der Bevölkerung zitiert werden.
GM: Im Untertitel ist der Zeitraum von 1915 bis 2023 gefasst. Das bezieht sich aber nicht auf die Entstehung der Filme.
GV: Nein, die Gründung der armenischen Kinematographie fand 1923 statt. Gemeint ist kein filmhistorischer Zeitraum, sondern eine Kontinuität der Verfolgung. Sie setzt sich schließlich bis heute fort. Wie Primo Levi sagte: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen."
In der Filmauswahl wird auch Arzach thematisiert, das ist der armenische Name für die Region Karabach, die, so heißt es immer, völkerrrechtlich zu Aserbaidschan gehöre, aber bis zum Krieg in diesem Jahr mehrheitlich von Armeniern bewohnt wurde. Mich und viele Gästen, die wir eingeladen haben, verstört es zutiefst, dass die Vertreibung der Armenier, die dort seit Menschengedenken lebten, hier zu Lande lediglich als Konflikt oder als Krise behandelt wird. Tatsächlich handelt es sich um eine ethnische Säuberung. Die Armenier werden als parasitäre Ansiedler beschimpft, die kein Anrecht haben, dort zu bleiben. In Wirklichkeit haben sie die Kultur seit dem 4. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Armenische Friedhöfe werden schon seit längerem dem Erdboden gleichgemacht. Der Friedhof von Culfa im aserbaidschanischen Nachitschewan, dessen Steinkreuze als einzigartiges Kulturgut galten, wurde bereits 2005 komplett zerstört. Nun liegt dort ein Truppenübungsplatz. Diese Auslöschung der armenischen Kultur geht weiter. Es soll keine Spuren mehr geben, die an sie erinnern.
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