Ein Nachklang, kein Echo
»May December« von Todd Haynes lädt dazu ein, tiefer zu schürfen. Wenn man ihn sieht und danach, wenn er einem durch den Kopf geht, legt man immer neue Schichten frei. Seine Verbindung zu „»The Go-Between« (Der Mittler) etwa ist offenkundig und lautstark: In Beiden erklingt Michel Legrands schneidender Klavierakkord. Allmählich jedoch entdeckt man, dass die musikalische und thematische Verwandtschaft noch inniger ist.
Haynes' Film ist, ebenso wie der von Joseph Losey, ein aufgeklärtes Melodram. Sie handeln von der Verführung eines Jungen, der Erfahrungen macht, für die er noch nicht reif genug ist. Beide sind, man mag es kaum glauben, praktisch gleichaltrig. Die Erinnerung spielt eine zentrale dramaturgische Rolle; die (Selbst-)Täuschung ebenso. Loyalität und Eifersucht treten in Widerspruch zueinander, Voyeurismus tritt auf den Plan. Die Anmaßung, die Gefühle des anderen zu kennen, hat beklemmende Konsequenzen. Beide Filme sind in Gesellschaften angesiedelt, die sich überlebt haben und deren Fassaden tiefe Risse bekommen.
Beide Partitur sind gleich knapp, sie nehmen jeweils nicht viel mehr als 20 Filmminuten ein. Haynes' Komponist Marcelo Zarvos zitiert Legrands Motiv nicht nur, sondern führt es weiter. Zarvos' eigene Klavierstücke greifen die Klangfarben auf, sie erinnern zuweilen gar an die kristallinen Partituren, die Legrand für Jacques Demy komponierte. Es handelt sich hier um kein ruchloses Plagiat, wie es der Einsatz von Bernard Hermanns »Vertigo« in »The Artist« darstellt. Der Film respektiert Legrands Urheberschaft – der Abspann nennt ihn postum als Mitkomponisten –, er erschleicht sich sein Talent nicht. Zarvelo hat Legrands Stück adaptiert und sacht neu orchestriert. Seine Partitur löst sich mitunter auch aus dessen Einfluss: in schwelenden Passagen, die ganz eigenständig klingen. Ein schöner Zusammenklang.
Mit einer anderen Musik als der zu »The Go-Between« hätte eine solche Aneignung nie funktioniert. Sie besitzt eine gewisse Autonomie: Losey wollte, dass ihr Einsatz durchaus willkürlich erscheint. Sie kommentiert nichts, sondern ist eine Intervention. Legrand schreibt dem Publikum nicht vor, was es in einer bestimmten Szene zu fühlen hat. Sein Motiv dient als ihr Auftakt oder als brüsker Abschluss. Es unterstreicht nicht die Emotionen der Figuren, gibt auch nicht vor, sie erklären zu können. Sie setzt Zäsuren. In der zweiten Filmhälfte verabschiedet sich die Musik für eine geschlagene halbe Stunde aus ihm. Er braucht sie da nicht mehr, ihre Dringlichkeit klingt nach. Ohnehin respektiert Legrand die Unmittelbarkeit der Tonspur: den Hall der Schritte in den Räumen des Landsitzes, das Summen der Insekten, das Zirpen der Grillen, die Stimmen und den Flügelschlag der Vögel, das Wehen des Sommerwindes.
Als Losey dem Komponisten »The Go-Between« vorführte, verblüffte ihn dessen Grausamkeit. Er stellte sich die Partitur als eine Heimsuchung vor. Sie sollte Partei ergreifen für den Jungen. Der Akkord besteht aus vier Noten, die sich in absteigender Tonleiter wiederholen. Er wird auf zwei Solopianos gespielt, die vielleicht für Julie Christie und Alan Bates stehen. In seinen Memoiren hält Legrand diese Möglichkeit offen. Das kurze Motiv wird dreizehnmal variiert, später kommen Streicher hinzu. Die Musik öffnet sich für eine pastorale Stimmung (es ist einer der großen Filme über einen Sommer auf dem Land), aber lieblich wird sie nie. Das Orchester bestand aus 25 Musikern, darunter nur einem Perkussionisten. Mehr brauchte Legrand nicht, die Solopianos geben den Rhythmus vor. Sie sind von Anfang an unerbittlich. Als ich »The Go-Between« vor einigen Tagen wiedersah, erschrak ich oft beim Einsatz des Klavierakkords. Er besiegelt, wie die Figuren in die Fallen tappen, die das Leben ihnen stellt. Davon erzählt Legrands Musik auch in „May December“: Sie klingt nach Verhängnis.
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