Zwei Ungarn
Eigentlich wollte er seine Komposition "Visionen" nennen, aber die waren nicht willkommen in dem Klima, das nach der Niederschlagung des Volksauftstands von 1956 herrschte. Statt dessen gab György Ligeti ihr den Titel "Atmosphères", der ebenso umfassende, aber politisch unverfänglichere Assoziationen weckte. Er behielt ihn auch bei, als er in den Westen floh. Das Stück wurde zum Passierschein seines Ruhms.
Bei der Uraufführung 1961 soll das Publikum so begeistert gewesen sein, dass es eine sofortige Wiederholung der »Atmosphères« verlangte: ein seltenes Beispiel Neuer Musik, das sich Zuhörerinnen und Zuhörer augenblicklich öffnet. Auch mich ergreift seine Zugänglichkeit. Für meine Ohren klingt es so, als würden sich kristallklare Nebenschleier lichten. Vor ein paar Monaten hörte ich es unter dem Dirigat meines ehemaligen Nachbarn Lahav Shani und freue mich darauf, es Ende des Monats wieder zu hören, wenn er es mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin im Konzerthaus aufführt. Lahav fasziniert seine schlichte Originalität. „Viele Komponisten haben im 20. Jahrhundert unerforschte Gebiete gesucht, aber das Ergebnis war selten kohärent oder teilte sich dem Publikum mit“, schreibt er mir. „Ligeti hingegen hatte die einfachste Idee, die aber niemand zuvor ausprobiert hatte – das Orchester alle Noten gemeinsam spielen zu lassen. Das Stück beginnt mit einem Cluster von Noten, der lange sehr sanft gehalten wird. Von da an verändert sich seine Textur ebenso kontinuierlich wie natürlich – ohne jegliche Melodie, Harmonie oder Rhythmik. Das Stück live im Konzertsaal zu hören ist für mich immer ein großartiges Erlebnis. “
Meine erste, ahnungslose Begegnung mit dem Stück fand indes im Kino statt, bei einer Wiederaufführung von »2001 – A Space Odyssey«. Stanley Kubrick setzte gleich vier Kompositionen Ligetis in seinem Film ein (sie vertragen sich gut mit Science Fiction), ohne ihn allerdings um dessen Erlaubnis zu fragen. Bezahlt wurde der Neutöner erst, nachdem er vor Gericht geklagt hatte. Das war ein schäbiger Auftakt, aber dennoch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, denn später griff der Regisseur regelmäßig – und nun mit dessen Genehmigung - auf Werke des Ungarn zurück.
Ab heute Abend begeht das "Metropolis" in Hamburg den 100. Geburtstag des Komponisten mit einer kleinen Filmreihe. Eigentlich handelt es sich um eine verkappte Kubrik-Mini-Retro, denn neben »2001«, »The Shining« und »Eyes Wide Shut« läuft nur noch eine halblange französische Dokumentation. Alex Ross beschreibt Ligeti in »The Rest is Noise«, seiner Monographie über die Musik des 20. Jahrhunderts“, als einen eigensinnigen Absorbierer unterschiedlicher Schulen und Traditionen. Fürwahr, eine gute Voraussetzung für einen Filmkomponisten. Tatsächlich war seine Beziehung zu dem Medium weit enger und vielgestaltiger – es wäre interessant zu hören, wie seine Arbeiten in »Heat«, »The Killing of a Sacred Deer«, »Shutter Island« oder »Charlie und die Schokoladenfabrik« wirken, und erst recht in »Todesgrüße aus Shanghai« mit Bruce Lee. Im Gegenzug hat die Reihe in Hamburg den Vorzug, dass der ausgewiesene Kubrick-Kenner Nils Daniel Peiler in die Filme einführt. (Am 21. 5. strahlt übrigens arte eine Dokumentation über den Komponisten aus, in der auch Kubricks Schwager Jan Harlan zu Wort kommt.)
Derweil feiert das Metro-Kino in Wien ab morgen (Samstag 13. 5.) einen weiteren Exilanten, dessen Karriere in Budapest begann: Mihaly Kertész bzw. Michael Curtiz. Das Kino des Filmarchivs Austria unternimmt eine tour d'horizon durch sein Werk, die mit »Casablanca« eröffnet wird. Ein Schwerpunkt liegt auf frühen Arbeiten, die in Ungarn und Wien endstanden. Hier kann das Filmarchiv mit eigenen Restaurierungen prunken, namentlich von den Monumentalfilmen »Der junge Medardus«, »Sodom und Gommorah« sowie »Die Sklavenkönigin«, der als Kertész' Passierschein nach Hollywood diente. Jack Warner war so beeindruckt vom Aufwand und der souveränen Inszenierung der Massenszenen, dass er den Regisseur schnellstmöglich von der Wiener Sascha-Film abwarb.
Mit Anbruch der Tonfilmära avancierte Curtiz zum Studioregisseur schlechthin. Für meine Generation, die mit dem klassischen Hollywoodkino im Fernsehen und manchmal sogar noch in Filmtheatern aufwuchs, war Curtiz eine Figur der Selbstverständlichkeit: eine Verkörperung unbedingter Professionalität. Ob er ein auteur war, fragte man sich anfangs noch nicht. Der Regisseur von »Unter Piratenflagge«, »Die Abenteuer von Robin Hood«, »Dodge City«, »Angels with dirty Faces« und »Mildred Pierece« schien jedes Genre zu beherrschen. Den Studiostil von Warners, angefangen mit aufgeweckten Pre-Code-Filmen, prägte er sicher mehr als jeder andere Vertragsregisseur. Seine Filme mochten nicht so ruppig und temperamentvoll sein wie die von Raoul Walsh, aber sie besaßen allemal mehr Tempo und Energie als die von Lloyd Bacon oder Roy del Ruth. Bertrand Tavernier schrieb von deren eigener "respiration", ihrem persönlichen Atem. Also doch ein Stilist?
Es wird gewiss spannend sein, im Metro-Kino Kertész' frühe Arbeiten in Ungarn zu entdecken. In Wien nimmt seine Karriere jedenfalls enorm an Fahrt auf, auch dank tatkräftiger Unterstützung von Produzenten wie Arnold Pressburger, Drehbuchautoren wie Ladislaus Vajda, Kameraleuten wie Franz Planer und Gustav Ucicky sowie Szenenbildnern wie Edgar G. Ulmer. Schon hier vermag er unterschiedlichste Register zu ziehen und ist in diversen Epochen und Milieus zuhause. In »Fiaker Nr. 13« (der Titel stelllt einen Wien-Film in Aussicht, tatsächlich profitiert der Film jedoch immens vom Dreh an Realschauplätzen in Paris) vermischen sich gar Komödie und Melodram. Aber zu seinem Markenzeichen werden Monumentalfilme. Selbst die Schnitzler-Adaption »Der junge Medardus« von 1923, eigentlich eine zahlreiche Volten patriotischer Zerrissenheit schlagende Charakterstudie während der Napoleonzeit, inszeniert er als überwältigenden Ausstattungsfilm. Die Schlacht von Aspern ist mit enormem logistischem Raffinement rekonstruiert. Das schicksalhafte Duell am Anfang jedoch changiert zwischen raumgreifender Totale und einer intimen, fast abstrahierenden Schuss-Gegenschuss-Folge. Bei der Beerdigungsszene experimentiert sein Kamerateam bereits mit einem Breitwandformat, in dem es eine Maske über das Bild legt.
Kertész versteht es in dieser Zeit zugleich meisterlich, den Szenen eine Tiefenperspektive zu geben und diese im Wechselspiel von Hell und Dunkel kunstvoll zu staffeln. In »Sodom und Gommorah« nimmt er 1922 sichtlich Maß an Griffith' »Intolerance«; auch das Drehbuch kombiniert eine historische und eine Gegenwartebene. Bereits während der Hochzeitsfeier kommen auf dem Anwesen des Bräutigams, eines Börsenmagnaten, Statistenheere zum Einsatz. Es ist ein wahres Elysium der Verworfenheit, auf dem 24/7 ein Bacchanal zelebriert wird. Im Zentrum steht eine Femme fatale, die mit der Selbstgewissheit der Sünderin auftritt, die sich unanfechtbar wähnt. Dieser Archetyp wird ihn im Verlauf seiner Karriere immer wieder beschäftigen, unmittelbar danach in »Der junge Medardus«, und ihm in der flotten Pre-Code-Perle „Female“ 1933 muntere Nuancen verleihen. Während der der Rückblende ins biblische Sodom wird selbstredend ebenfalls auszehrend gesündigt, was Kertész als strenger, wachsamer Zuchtmeister (selbst die Tauben fliegen auf Befehl) inszeniert. Besonders im Sodom-Teil sind die Massenszenen von ungeheurer plastischer Kraft. Der Film existiert nur noch als Torso, er war ursprünglich doppelt so lang – vielleicht kommt in den fehlenden Szene ja auch noch Gommorah vor.
In „Sodom und Gommorah“ befehligte Kertész angeblich 3500 Komparsen. Bei »Die Sklavenkönigin« überbieten er und die Sascha-Film das 1924 noch mal, hier sollen 5000 vor der Kamera gestanden haben. Der Regisseur konkurriert nicht nur mit sich selbst, er versucht auch, die deutschen Monumentalfilme von Ernst Lubitsch zu übertrumpfen und kommt denen von Fritz Lang um Haaresbreite zuvor. Die Flucht der Israeliten durchs Rote Meer hält tricktechnisch dem Vergleich mit Cecil.B. De Milles Erstverfilmung von »Die zehn Gebote« stand, der zeitgleich entsteht. Ein üppiges Empfehlungsschreiben. Mihaly Kertész ist bereit, Michael Curtiz zu werden.
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