Zur rechten Zeit

Der Untertitel von »Manzan benigaki« verspricht Erstaunliches: "Begegnungen mit Menschen und Kakipflaumen aus Kaminoyama" Wie kann man einer Pflaume begegnen? Wie könnte ihr ein Filmemacher entgegentreten, welchen Gruß müsste er ihr entbieten? Dass der Dokumentarfilm dies Versprechen verblüffend genau einlöst, verrät weniger eine Lust am Paradoxon, sondern ist ein Beleg dafür, wie sorgsam die RegisseurInnen Ogawa Shinsuke und Peng Xiaolian sich ihrem Sujet genähert haben.

Die Kakipflaume ist eine süße, aber gerbstoffreiche Beerenfrucht, die sich im Reifezustand in tiefes, leuchtendes Orangerot färbt. Wir kennen sie auch unter den Namen Khaki, Persimone oder Sharon. Als Trockenobst ist sie zumal zur Weihnachtszeit in Japan eine begehrte Delikatesse. Nur noch wenige Bauern verstehen sich auf ihren Anbau und ihre Verarbeitung. Eine melancholische Aura von Einzigartigkeit liegt über deren Gewerbe und Kunstfertigkeit. Mit nicht erlahmendem Erfindungsreichtum entwickelt ein örtlicher Handwerker praktische Schälmaschinen, obwohl er kaum noch Abnehmer für sie findet. Das Verschwinden der Traditionen und Orte war ein zentrales Thema im Schaffen des Dokumentarfilmers Ogawa, der den Film bereits 1984 begann. Erst viele Jahre nach dessen Tod montierte seine chinesische Kollegin Peng Xiaolian nach seinen Notizen das gedrehte Material und begab sich ihrerseits auf Spurensuche an den alten Drehorten. Vermächtnis und Überlieferung sind nicht nur zentrale Themen des Films, sondern Grundbedingung seines Entstehens.

Das Kino zeigt sich in »Manzan benigaki« als ein zärtlich-gewissenhafter Apparat, der die Zeit aufbewahrt. Die Frucht dient dem Film nicht nur als Anlass, um Alltagsgeschichte einzufangen und zu illustrieren, wie sich Dorfgemeinschaften wandeln. Ernte und Verarbeitung selbst sind ein komplizierter Prozess, der ausführlich in sein filmisches Recht gesetzt wird. Wir erleben, wie sich die tiefrote Frucht allmählich in den Trockenhäusern verwandelt, bis sie dann, vom Fruchtzucker hübsch verziert, auf die Reise geht zu erwartungsfrohen Kunden.

Die Landwirtschaft hat als filmisches Topos seit einigen Jahren Konjunktur. Kühe und Schweine etwa avancieren derzeit zu Protagonisten, denen es an Charisma nicht fehlt. Ackerbau und Viehzucht waren ein zentrales Thema im Wettbewerb der gerade ausgeklungenen Berlinale, überdies ein preiswürdiges: »Alcarràs« von Carla Simon wurde mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet; der schweizerische Beitrag „Drii Winter“ hinterließ einen starken Eindruck und erhielt eine Lobende Erwähnung, nur »Yin Ru Chen Yan« aus China ging, sehr zum Bedauern meiner RedakteurInnen, leer aus. Als hätte das Zeughauskino diesen Schwerpunkt und Preisregen bereits vorausgeahnt, schließt es mit der Reihe »Unser täglich Brot« nun nahtlos an die Filmfestspiele an. Zugegeben, eine gewisse Tendenz war längst erkennbar. Aber das von Patrick Holzapfel kuratierte Programm setzt auf eine zeitlose Aktualität. Der älteste Film stammt von 1929/30 (Dowschenkos »Zemlya«/ »Erde«, auf den ich gestern einging und der zusammen mit »Znoy« von Larissa Schepitko läuft), der jüngste von 2019 (Camila Freitas' »Chao« aus Brasilien). Das Spektrum ist international (Wang Bing, Vittorio de Seta, Haile Gerima) und ebenso offen für einschlägige Klassiker (»Farrebique« von Georges Rouquier, »The Southerner« von Jean Renoir) wie für entlegene Fundstücke.

Ich vermute, Patrick Holzapfel brennt für dieses Thema. Vor einiger Zeit jedenfalls hat er im täglichen "Notebook" der Streamingplattform Mubi einen überaus persönlich gehaltenen und sehr sinnlichen Essay über »L'albero degli zoccoli« (Der Holzschuhbaum) von Ermanno Olmi verfasst. Auch den kann man im Zeughaus sehen oder wiedersehen. Das von mir als zentral bezeichnete Thema des Berlinale-Wettbewerbs war immer ein randständiges, aber doch unverzichtbares. Das französische Autoren- wie Mainstreamkino etwa besinnt sich seit einigen Jahren verstärkt darauf. »Das Mädchen, das lesen konnte« und »Das Land meines Vaters« liefen auch bei uns. Dasselbe hätte ich auch »Petit Paysan« mit Swann Arlaud und »Les Gardiennes« von Xavier Beauvois gewünscht. Zugleich ist die Landwirtschaft eine Domäne des Dokumentarfilms. Ich bin eingangs so ausführlich auf »Manzan benigaki« eingegangen, weil seine Entstehung auf besondere Weise den Generationenvertrag bekräftigt, der in diesem Berufszweig wirkt. Feld und Hof verlangen Nachfolge. Der Acker, auf den ich von meinem Küchenfenster in Herford blicke, wird inzwischen von dem Enkel des Bauern bestellt, dem mein Vater ihn einst verpachtete.

Ein Name darf bei der kinematografischen Repräsentation der Landwirtschaft mittlerweile nicht mehr fehlen: Pierre Creton, der filmende Bauer aus dem kleinen Vattetot-sur-Mer in der Normandie. Ich musste mich vor einigen Jahren mit ihm beschäftigen, als die Viennale ihm einen Schwerpunkt widmete. Er kennt genau, was vor seiner Kamera geschieht. Er ist nicht nur Bauer, war unter anderem auch als Imker tätig. Das erklärt gewiss nicht vollends die unbeirrte Konsequenz, die sein Schaffen seit 1994 bestimmt. Es ist ein Akt der Überlieferung; jenseits der Folklore. Natur, Arbeit, die ländliche Gemeinschaft und die Präsenz der Gedanken in der physischen Welt sind Motive, die ihn von Anfang an umtreiben: Er filmt das Einerlei des Kultivierens. Kunst und Philosophie haben ein festes Bleiberecht in diesem Pastoral. (In einem seiner Filme tritt Xavier Beauvois auf, wenngleich nicht als Regisseur, sondern als Beigeordneter eines Bürgermeisters.) Bildkader und Montage behaupten bei Creton nie, mehr als ein Ausschnitt zu sein. Und doch ist in ihnen eine ganze Welt enthalten.

Im Zeughaus läuft »Secteur 545«. Da ist er in einem von mehreren Tätigkeitsbereichen zu sehen, die der Filmemacher bisher schon ausgeübt hat: dem des peseur, der morgens und abends die Produktion der Milchkühe messen muss. Creton hält mit der Kamera fest, wie er 2004 für besagten Sektor zuständig ist. Er ist zugleich Zeuge und Akteur in diesem fast klassischen, schwarzweißen Stück Cinéma Verité, das ein lebendiges, facettenreiches Bild vom Landleben in der Normandie zeichnet. Creton ist fasziniert von den Geräuschen dieser Arbeitswelt, den natürlichen wie mechanischen. Als roter Faden zieht sich eine so einfache wie komplizierte Frage durch den Film, die tief an das Selbstverständnis der Milchbauern rührt: Gibt es einen Unterschied zwischen Mensch und Tier?

 

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