Die französische Ausnahme
Der Titel »Von Godard bis Truffaut: Die schönsten Filmsongs« ist eine Mogelpackung. Gewiss, es kommt auch Musik aus Filmen der beiden Regisseure vor. Aber erfreulicherweise ist das Spektrum des Konzerts, über das ich heute sprechen will, viel breiter. Und Songs kommen auch nicht vor.
Zwei, drei Chansons schon. Aber das Orchester von Radio France führt sie ohne Gesang auf. Kein Potpourri der größten Filmhits also. Die holprige Titelei zeigt vielmehr, welch elementare Verunsicherung bei arte in Sachen Filmgeschichte inzwischen herrscht. Der deutsch-französische Sender begreift sie als ungenügende Attraktion. Ihr muss unbedingt nachgeholfen werden, damit sie flotter, populärer, zeitgemäßer wirkt. In diesem Fall klingt der Anglizismus noch einmal besonders falsch.
Die Aufzeichnung besagten Konzerts (in der Mediathek des Senders ist sie noch bis Anfang nächsten Jahres abrufbar) stand lange auf meiner Liste unerledigter Freuden; ich sparte es mir für eine besondere Gelegenheit auf. Sie bot sich am Wochenende, als Bertrand Tavernier Geburtstag feierte. Er ist der Initiator eines dreitägigen Festivals französischer Filmmusik, das Radio France im Januar letzten Jahres veranstaltete. Er konzipierte es gemeinsam mit Stéphane Lerouge, den ich als kenntnisreichen Herausgeber der Reihe »Écoutez le cinéma« bei Universal schätze, die inzwischen 140 CDs mit Komponistenporträts umfasst; er ist zudem Co-Autor der Memoiren Michel Legrands. Das aufgezeichnete Konzert, das ursprünglich »Von Tati bis Godard« hieß, bildete den Auftakt. Der zweite Tag war sinfonischen Filmmusiken von Georges Auric (»La Belle et la bete«), Joseph Kosma (»Kinder des Olymp«), Camille Saint-Saens, Arthur Honegger und anderen gewidmet; der dritte Filmchansons.
Der Dirigent dieser Eröffnung war Bruno Fontaine, dessen Werdegang ihn vielfach für diese Aufgabe empfiehlt. Er hat Partituren für die Bühne und für Filme von Alain Resnais und Noémie Lvovsky komponiert. Als Pianist, Arrangeur und Dirigent hat er mit illustren KünstlerInnen wie Julia Migenes, Johnny Hallyday, Ute Lemper sowie Les Rita Mitsouko gearbeitet. Er ist also bestens vertraut mit dem, was man hier zu Lande etwas ratlos Gebrauchsmusik nennt.
Das Programm ist keine bunte, aber farbenfrohe Mischung. Natürlich erklingen bekannte Melodien, etwa Kosmas Walzer aus »Die Pforten der Nacht«, in dem das epochale »Le feuilles mortes« (Autumn leaves) schon anklingt, oder Georges Delerues »Camille«-Thema aus Godards »Die Verachtung«. Aber der Wiedererkennungswert ist nicht der treibende Impuls der Auswahl, sondern eine Archäologie französischer Filmmusikkultur von den 1930ern bis in die 70er. Dabei erklingt übrigens Vieles, das für jenes traditionelle Kino komponiert wurde, gegen das Godard, Truffaut und Konsorten damals erbitterten Widerspruch einlegten.
Eine der großen Entdeckungen war für mich Michel Legrands Musik zum Film noir »Nacht über Paris« (Regie: Pierre Chenal, 1958), die erste französische Jazzpartitur für großes Orchester. Eine schöne Wiederbegegnung war die mit Francois de Roubaix' schmissigem Titelthema für »Der Kommissar und sein Lockvogel«, an dem die Perkussionisten und der Bassist mächtigen Spaß hatten. Fontaine hat alle Stücke neu arrangiert, nicht plakativ zeitgemäß, sondern mit agiler Nostalgie. Seine (nicht untertitelten) Moderationen sind zuweilen schwer zu verstehen, da er sich ohne Mikro ans Publikum wendet. Das hat aber den Charme des Stegreifs. Als er »Die große Illusion« ankündigt, erzählt er, dass Kosmas Musik für Jean Renoirs Klassiker seit 1937 nie wieder konzertant aufgeführt worden ist. Was es damit auf sich hat, sollte ich später erfahren.
Die Auswahl endet in den 1970er Jahren, zu jenem Zeitpunkt also, als Tavernier selbst anfängt, Langfilme zu drehen: Keine Interessenkonflikte (mithin leider nichts von Philippe Sarde), allerdings steht Bruno Coulais' beschwingt-gemächliche Komposition zu seiner »Reise durch das französische Kino« am Anfang:als eine klangsinnliche Synthese ohne Zitate. Die hat hoffentlich Lerouge ausgewählt. Am Ende schließt sich mit »Die amerikanische Nacht« ein Kreis, für den sich Truffaut von Georges Delerue eine Summe all dessen wünschte, was Filmmusik erzählen kann.
»Versuchen Sie auch, irgendwie an das Programm der anderen Tage zu kommen«, schrieb Tavernier in seiner Antwort auf meine Glückwünsche. Unbescheiden fügte er hinzu: »Hören Sie sich auf jeden Fall das Interview an, das France culture mit mir dazu geführt hat.« Fürwahr, es ist eine Fundgrube an Hintergrundinformationen. Man erfährt beispielsweise, dass Godard ausgerechnet Paul Misraki, einen Komponisten der alten Garde, für »Alphaville« haben wollte, weil der zuvor mit Orson Welles gearbeitet hatte. Seine derwischhafte Musik zu »Mr. Arkadin« ist im Konzert zu hören.
Tavernier berichtet, dass Kosmas Partitur für »Die große Illusion« verschollen ist und Bruno Fontaine sie nach Gehör rekonstruieren musste. Solch klaffende Lücken sind einer Eigenart des französischen Kinos geschuldet: Die Filmmusik wird nicht von den Produzenten finanziert, sondern den Musikverlagen. Sie (oder ihre Rechtsnachfolger) gingen haarsträubend nachlässig mit diesem wertvollen Erbe um. Die Auswahl, die er und Lerouge trafen, war einerseits von dem Material bestimmt, das noch verfügbar war. Es galt aber auch, Lücken in der Überlieferung zu schließen: Zumal in den ersten Tonfilmjahrzehnten entdeckten sie ungeheuer viel, das rehabilitiert werden sollte.
Die Interviewerin stellt den Regisseur in der Sendung von France culture als die »Erinnerung des französischen Kinos« vor. Das lässt er sich gern gefallen. Natürlich spricht er über seine eigenen Erfahrungen: Mit den Komponisten arbeitet er bereits zusammen, wenn das Drehbuch fertig ist, er erhofft sich von ihnen eine Musik, die den Film nicht kommentiert, sondern in jene emotionalen Zonen vorstößt, die er selbst noch nicht entdeckt hat. Vor allem aber zeigt er sich als charismatischer und eminent patriotischer Vermittler. Er wird nicht müde, die exception culturelle hervorzuheben: die frühe, neugierige Begeisterung etablierter Komponisten wie Honegger, Jacques Ibert, Darius Milhaud fürs Kino, das einzigartig enge Verhältnis zwischen Regisseuren und Komponisten. René Clair, Jean Gremillon Julien Duvivier, Renoir, Agnès Varda und Jacques Demy schrieben Texte für die Chansons, die in ihren Filmen zu hören sind. Im Studiosystem Hollywoods war es Regisseuren seinerzeit untersagt, an den Musikaufnahmen und der Mischung teilzunehmen. Die französischen Filmemacher hingegen suchten sich selbst die Komponisten aus. Die Produzenten hätten sich bestimmt mehr Melodien gewünscht, die man nachpfeifen kann. Ich bin sicher, wenn Sie das Konzert hören, werden Sie mir zustimmen: Welch Glück, dass es anders kam!
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