Ein Formwandler
Das Leben konnte in seinen Filmen an den unmöglichsten Orten entstehen. Neugeborene konnten aus Kohlköpfen und Bambusrohren geborgen werden. Und anscheinend besitzt die Mär vom Klapperstorch auch in Japan Gültigkeit, denn in »Meine Nachbarn, die Yamadas« transportiert ein frohgemuter Schwarm Nachwuchs in stattlicher Zahl. Obwohl mich die Formation der Kindesüberbringer ein wenig an die amerikanischen Bomberstaffeln aus »Die letzten Glühwürmchen« erinnert, die Tod und Verwüstung über Japan bringen.
Isao Takahata war zwölf, als der Zweite Weltkrieg im Pazifik zu Ende ging. Ein Überlebender, der fortan ein glühender Pazifist sein sollte – wenngleich die Mobilmachung der Waschbären, die in »Pom Poko« ihren Lebensraum gegen die Expansion menschlicher Ansiedlung wacker verteidigen, ziemlich putzig ausfällt. Die Waschbären besinnen sich nämlich auf ihre Fähigkeit, ihre Gestalt zu wechseln. Mit einem flotten Salto können sie sich in alles Mögliche verwandeln, ein anderes Tier, eine Statue, ein Ungeheuer oder auch in einen Menschen. Heute morgen musste ich schallend über den einfallsreichen Schabernack lachen, mit dem sie die Bauarbeiten sabotieren; vor allem über den Moment, als drei von ihnen einem Trupp von Ingenieuren und Landvermessern einen furchtbaren Schrecken versetzen, in dem sie als deren Ebenbilder erscheinen. Es ist köstlich, wie munter die listigen Doppelgänger die armen Menschenwesen eine Treppe hinauf- und hinabjagen. Die Mordlust der militanteren Waschbären ging ihm sicher gegen den Strich, aber ich habe keinen Zweifel, dass er ansonsten eine verschmitzte Komplizenschaft zu den Gestaltwechslern empfand.
Nachrufe muss man heute in der Regel blitzschnell schreiben, aber ich wollte mir die Zeit nehmen, ein paar von Takahatas Animationsfilmen noch einmal zu sehen. Im Gegensatz zu seinem Freund Hayao Miyazaki, den er vor fast 60 Jahren kennenlernte, als sie beide bei Toei anfingen, haben mich seine Filme nicht begleitet. Sie tauchten sporadisch auf, hinterließen dann aber einen starken Eindruck. Man versteht, was die Zwei verband: die Liebe zu wundersamen Geschichten, die sich so nur animiert erzählen lassen; die Sorge um die ökologischen Verwerfungen ihrer Heimat und der Welt insgesamt; ein Faible für die europäische Kultur (Takahata hatte französische Literatur studiert und kam über Jacques Préverts Gedichte zu den Zeichentrickfilmen von Paul Grimault) und eben der Pazifismus. Über Miyazakis »Wie der Wind sich hebt« haben sie vor ein paar Jahren noch öffentlich gestritten, denn Takahata war mit dessen Darstellung des Weltkriegs gar nicht glücklich. Das ist umso erstaunlicher, weil sie ja 1985 Mitgründer des Studios Ghibli waren, das den Film produzierte (siehe auch den Eintrag "Ein Zauber wird Kulturerbe" vom 21. 2. 2015). Ich glaube, ihre Freundschaft hielt diese Differenzen aus – obwohl ich bislang noch kein Wort von Miyazaki über den Tod seines Weggefährten gehört habe. Ästhetisch gingen sie durchaus andere Wege. Während es bei dem gelernten Zeichners Miyazaki einen augenblicklichen Wiedererkennungsseffekt gibt, unterscheidet sich der Animationsstil bei Takahata von Mal zu Mal. Seine Filme unterscheiden sich zwar radikal, aber sie antworten aufeinander; oft im Abstand von Jahrzehnten.
Vermutlich ergänzten sich Miyazaki und er deshalb so gut, weil sie eigenständige Temperamente waren. Keiner musste im Schatten des anderen stehen. Wunderbar, dass sie als Co-Produzenten von »Die rote Schildkröte« noch einmal an einem Strang zogen. Berühmt wurden sie durch »Heidi«. Ohne die Fernsehserie hätte es die Meldung von Takahatas Tod wahrscheinlich nicht in hiesige TV-Nachrichten geschafft. Da zeigte sich übrigens, was für ein gründlicher Rechercheur der Filmemacher war: Er wollte genau wissen, welche Brotsorten man damals in den Alpen aß. Eines der schönsten Beispiele dieser Detailliebe ist der eigentlich völlig unerhebliche Moment, als eine Kammerzofe die Schleppen der Kostüme der fünf Bewerber um die Gunst der Prinzessin Kaguya richtet.
Ihm war es auch wichtig, dass die Himmelsrichtung stimmt, aus der die B-29-Bomber kommen, die in »Das letzte Glühwürmchen« unfassbares Leid und Zerstörung nach Japan tragen. Es ist beklemmend, wie entschieden sich Takahata hier weigert, die Augen vor den Schrecken des Krieges zu verschließen. Er legt Zeugnis ab über das eigene Erleben der Bombardements. Das ist mitunter kaum zu ertragen, etwa, wenn sich bereits die Maden an den bandagierten Leichnam der verbrannten Mutter machen. Der Regisseur erweitert nicht kühn nur die Zuständigkeiten des Animations-, sondern auch des Kinderfilms (siehe auch Eintrag "Jugendschutz als Zahlenspiel" vom 10.4. 2017). Ihr Tod ist der Anfang der herzzerreißenden Verfallsgeschichte ihrer beiden Kinder, die später von der engherzigen Tante verstoßen werden und auf eigene Faust überleben müssen. Takahata übersetzt Trauer und Verlust in ein Körperspiel, das man bis dahin nicht von animierten Figuren kannte. Die Schultern der kleinen Schwester Setsuko wiegen sich traumverloren, bevor sie zu zittern beginnt und dann in Tränen ausbricht. Seita. der ältere Bruder, nutzt die Bombenangriffe, um Mundraub zu begehen in den rasch verlassenen Häusern. Die Waisen entwickeln eine ungeheure Anpassungsfähigkeit, zuzeiten ergreift sprunghafte Fröhlichkeit von ihnen Besitz. Trost finden sie im Anblick der Glühwürmchen (die nach dem Abbrennen liebevoll begraben werden) und dem Inhalt einer Dose von Fruchtbonbons (deren Hersteller nach dem Erfolg des Films Setsukos Antlitz darauf prägen ließ). Ihre Geschichte wird vom Tod her erzählt: »Am 21. September 1945 bin ich gestorben« verkündet die Erzählstimme Seitas zu Beginn, der fortan als Geist die Orte wieder besucht, an denen sich ihre Geschichte zutrug. Das ist eine Zumutung, mit der man im Verlauf des Films seinen Frieden machen kann. Takahatas Kino lässt Mehrdeutigkeit und bestürzende Härten zu. Eigentlich sind sie sogar dessen Kern.
Es vermittelt kindgerechte Botschaften, aber tut dies, indem es von komplexen Charakteren erzählt. Das ist kein Vorrecht der Erwachsenen, sondern vielmehr Teil des Heranwachsens. Das spürt man in der trocken satirischen Verve von »Meine Nachbarn, die Yamadas« ebenso wie in der lebhaften Melancholie von »Die Legende der Prinzessin Kaguya«. Der Erzählton entsteht bei Takahata aus lauter Brechungen. Die Domestizierung des Bambussprösslings Kaguya ist vielleicht der wehmütigste Verwandlungsprozess in seinem Werk. Der Regisseur weigert sich, diesen als unwiderruflich zu begreifen – die Heldin erobert sich Freiräume auch im erstickenden höfischen Reglement; der kleine Garten, den sie im Gedächtnis an die verlorene Kindheit kultiviert, ist zauberhaft – und man spürt seine Trauer darüber, wie sich am Ende alles fügen muss. Manche Filmemacher erzählen vom Verlieren, andere vom Finden. Takahata gehört zur ersten Kategorie, sein Freund Miyazaki eher zur zweiten. Erstaunlich, dass das Werk des Einen so beglückend ist wie das des Anderen.
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